„Beim Lichte, was … Halt!“
Die Stimme trieb auf sie zu, anfangs leise, dann immer lauter. Die extrem scharfen Spitzen mehrerer Lanzen kamen in Sicht, die von Händen in Stulpen gehalten wurden, ehe sie sich schließlich den Gesichtern der Männer der Königsgarde gegenübersahen, die erst zornig und dann verwirrt dreinschauten.
„Hauptmann?“ Der erste Wachmann starrte Lothar in fassungslosem Erkennen an, ehe sein Blick zu Medivh schweifte. „Wächter!“
„Senkt die Waffen“, befahl Lothar, wenn auch nicht unfreundlich. Sofort traten die Soldaten zurück und nahmen Haltung an, die Schäfte ihrer Lanzen fest auf den Boden gepflanzt.
Llane hatte sich von seinem Thron erhoben und kam nun die Stufen herab; seine Augen waren warm und herzlich, und ein breites Lächeln teilte seinen sorgsam gestutzten braunen Vollbart. Medivh verneigte sich tief.
„Euer Gnaden“, sagte der Wächter.
Doch Llane wollte davon nichts wissen. Stattdessen streckte er die Arme aus, um Medivh ungestüm zu umarmen. Um die Umarmung zu erwidern und seinem alten Freund auf den Rücken zu klopfen, reichte der Wächter dem überraschten Khadgar seinen Stab, der ihn beinah ehrfürchtig musterte. Als sich Llane und Medivh wieder voneinander trennten, lächelten beide.
„Medivh … Es ist schon so lange her!“, rief Llane. „Komm. Hilf uns, die Wurzel dieses Übels zu verstehen, das uns plagt.“ Als der König und der Wächter den Thronsaal verließen, steckten sie bereits die Köpfe zusammen, um sich rasch auf den neuesten Stand zu bringen.
Khadgar schickte sich an, ihnen zu folgen, doch Lothar legte dem Jungen eine Hand auf die schmale Schulter.
„Du hörst zu, sagst aber nichts“, warnte Lothar. „Verstanden?“
Khadgar nickte. Er und Lothar folgten dem König in einen anderen Raum, den Lothar nur zu gut kannte. Der Thronsaal war offiziellen Anlässen und Volksbegehren vorbehalten – für die Gelegenheiten, da Llane König sein musste. Im Kriegsraum dagegen war der König Oberbefehlshaber.
Verglichen mit der Größe und der Förmlichkeit des Thronsaals wirkte diese Kammer fast intim. Lothar war das stets angemessen erschienen. Ein Soldat konnte sich von seinen Strategien distanzieren, von waghalsigen Plänen, von der schieren Zahl der Legionen und den Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, Männer und Material zu versorgen. Allerdings konnte er – oder sie, da auch Frauen in Sturmwinds Armeen kämpften – keinen Abstand zwischen sich und die Tatsache bringen, dass sie es mit dem Tod zu tun bekommen würden. Genauso intim wie der Akt, Leben zu erschaffen, war jener, es zu nehmen.
Die Decke war niedrig, und das Licht stammte von einigen wenigen Fenstern und Kandelabern. Der vordere Teil der Kammer wurde von einem gewaltigen Tisch beherrscht, auf dem auf Pergament gezeichnete Karten ausgebreitet lagen, während auf einem zweiten Tisch kleine, geschnitzte Figürchen standen, die Geschütze, Verbündete oder Feinde repräsentierten. Darüber hinaus wurde in der Kammer jede Menge Kriegsgerät zur Schau gestellt: Schilde, lange und kurze Schwerter, Morgensterne, Piken, Äxte. Khadgar marschierte mit großen Augen geradewegs auf die Vitrinen zu und umrundete sie ehrfurchtsvoll.
„Das“, sagte Llane und wies auf mehrere Ansammlungen roter Figuren auf dem zweiten Tisch, „sind die Bestien, die uns so massiv angegriffen haben.“
„Bestien welcher Art?“, fragte Medivh und studierte die Karten.
Llane wirkte aufgebracht. „Riesen – bewaffnete Riesen. Sie reiten auf Wölfen. Mächtige, unaufhaltsame Bestien.“
„Unaufhaltsam sind nur die Gerüchte“, warf Lothar ein.
„Dagegen können wir kaum allzu viel tun“, sagte Llane.
Medivh studierte weiterhin mit gefurchter Stirn den Strategietisch. Dann streckte er eine Hand aus, um das geschnitzte Symbol des geheimnisvollen Gegners zu berühren. „Was ist mit den anderen Reichen? Leiden sie unter derselben Plage?“
„Zwar suchen alle unseren Schutz, doch keiner traut uns genug, um uns irgendetwas Konkretes zu berichten.“ Llane hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte den Tisch so durchdringend an, als könnte er mit seiner Willenskraft allein irgendetwas daran ändern.
„Mit anderen Worten: In den vergangenen sechs Jahren hat sich nur wenig verändert“, sagte Medivh trocken.
Lothar hatte genug gehört. „Wir wissen nicht das Geringste über diese sogenannten Monster.“ Er nahm eine der Feindfiguren und schüttelte sie, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. „Wir brauchen Gefangene. Selbst ein Leichnam würde uns etwas verraten.“
Llane nahm Lothar die kleine Figur aus der Hand und drehte sie zwischen den Fingern. Er hob den Blick, um den Wächter anzusehen. „Ich vermag nicht zu sagen, wie groß die Gefahr ist, in der wir schweben, Medivh.“
„Ich existierte, um dieses Reich zu beschützen, Mylord. Das ist mein alleiniger Lebenszweck. Ich bin der Wächter.“ Medivhs blaugrüne Augen schweiften zu Khadgar, der den rabengekrönten Stab in Händen hielt und all die Waffen bestaunte. „Jedenfalls“, berichtigte er sich, „fürs Erste noch.“
Llanes Blick folgte Medivhs, und er hob die Brauen. Er hat es vergessen, wurde Lothar klar. „Ja“, sagte Llane und versteifte sich fast unmerklich. Er stellte die Figur an ihre ursprüngliche Stelle auf der Karte zurück. „Und was machen wir mit diesem … Wie hieß er noch?“
„Khadgar, Sire“, entgegnete der junge Magier ruhig. Als er sich zum König umdrehte, traf er mit dem Rabenstock klirrend eins der Schwerter und errötete.
„Wir nehmen ihn mit“, verkündete Medivh, bevor Lothar etwas dagegen einwenden konnte.
Lothar verdrehte die Augen. „Also gut. Dann sollten wir jetzt besser aufbrechen.“
Lothar forderte drei Pferde, eine Kompanie bewaffneter, gepanzerter Soldaten und einen stabilen vergitterten Karren für den Transport der Gefangenen an, die sie hoffentlich machen würden. Sobald man ihnen mitteilte, dass die Kompanie bereit war, machten er, Medivh und Khadgar sich auf den Weg. Als Feldwebel Callan im Burghof zackig salutierte, zog Lothar eine Grimasse.
„Wir sind bereit zum Aufbruch und erwarten Euren Befehl, Herr.“
„Geben wir unseren Gästen erst einmal Gelegenheit, auf ihre Pferde zu steigen, oder, Feldwebel?“
Callans Wangen liefen rosa an, doch er nickte. „Wie Ihr wünscht, Herr“, entgegnete er.
Beinah augenblicklich beschlichen Lothar Gewissensbisse. Der Junge hatte schließlich alles richtig gemacht. Sogar vorbildlich, bis hin zur Auswahl der Pferde. Er hatte ihm selbst seinen Hengst Reliant und zwei Rösser mit gutem Temperament für Medivh und Khadgar mitgebracht. Er hatte Lothars abfällige Bemerkung nicht verdient. Der Hauptmann schwang sich in Reliants Sattel und tätschelte dem Hengst den geschmeidigen braunen Hals. Greife mochten gut und schön sein, doch Pferde waren besser.
Schroff sagte er: „Eine gute Wahl bei den anderen beiden.“
„Danke, Herr!“ Callans Miene blieb unverändert, doch Lothar sah, wie sich die Schultern seines Sohnes fast unmerklich entspannten.
In einem langsamen Trott ritten sie durch die Straßen der Stadt. Als sie den Marktplatz erreichten, kamen sie an einer hoch aufragenden Statue mit einem sehr vertrauten Antlitz vorbei. Khadgars Gesichtsausdruck, als er erst die Statue, dann Medivh und dann wieder die Statue musterte, um den Blick schließlich bedächtig geradeaus gerichtet zu halten, war einfach unbezahlbar.
Medivhs Sattel knirschte, als er auf dem Rücken des Tieres sein Gewicht verlagerte. „Ich habe sie nicht darum gebeten, das Ding aufzustellen“, machte er klar. Lothar wusste, dass das stimmte. Die Statue war auf Wunsch der Bevölkerung errichtet worden, aus Dankbarkeit darüber, nicht als Troll-Festmahl geendet zu haben.
„Ihr habt die Stadt gerettet“, erklärte Khadgar höflich.
Der Wächter runzelte gelinde die Stirn. „Und was haben sie sonst noch davon?“