„Das Volk liebt Euch“, sagte Khadgar. Lothar verkniff sich ein Lächeln.
„Das habe ich dich nicht gefragt“, sagte Medivh.
Khadgar spähte mit zusammengekniffenen Augen zum blauen Himmel empor. „Wenn die Sonne heiß brennt, spendet die Statue einen angenehmen Schatten.“
Medivh warf seinem alten Freund einen beeindruckten Blick zu und konnte ein Lächeln nicht verbergen, auch wenn er es wohl gern getan hätte.
Sobald sie über die Brücke und durch Sturmwinds Tore getrabt waren, gab Lothar dem Trupp das Signal, in einen leichten Galopp zu verfallen. Sie folgten weiterhin dem Weg. Am Gasthaus „Zur Höhle des Löwen“ hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die den vorbeireitenden Soldaten zujubelte. Lothar achtete darauf, Blickkontakt zu pflegen und den Salut zu erwidern, mit dem ihn einige Kinder bedachten. Er wusste längst, dass dieser Kampf teilweise dadurch gewonnen wurde, dass man Gerüchte auf ein Mindestmaß reduzierte und der Bevölkerung das Gefühl gab, sicher zu sein, und eine komplette Kompanie von fünfzig voll gepanzerten Reitern, die an ihnen vorbeidonnerte, trug gewiss einiges dazu bei, um dieses Ziel zu erreichen.
Die Soldaten waren zu gut ausgebildet, um Zeit mit müßiger Konversation zu vergeuden – darum begleiteten sie auf ihrem Weg allein das rhythmische Hufgeklapper und die Gesänge und Rufe der Vögel. Lothar dachte daran, was er gesehen hatte: diesen ekelhaften Nebel, der aus dem Mund des Toten aufgestiegen war. Natürlich war er eifrig bestrebt gewesen, Llanes Bedenken zu zerstreuen, doch in Wahrheit wusste er auch nicht besser, worum es sich bei diesen „Bestien“ handeln könnte, als ein Bauer, der in der „Höhle des Löwen“ sein Bier trank.
Und dann war da noch Callan. Der Gedanke, dass der junge Mann dabei war, gefiel ihm ganz und gar nicht – nicht, solange sie nicht wussten, womit sie es überhaupt zu tun hatten. Verfluchte Taria. Gewiss, auf ihre Weise meinte sie es nur gut, doch nichts hieran war gut …
Er blickte finster drein. Der Wald war still. Medivh, der ein Stückchen vor ihm ritt, hatte sein Pferd gezügelt und dann ganz zum Stehen gebracht. Lothar hob die Faust, und der Rest der Kompanie hinter ihm machte ebenfalls halt. Er selbst ritt langsam weiter, bis er am Rand der Lichtung Medivh erreichte.
Das, was einst ein gewöhnlicher breiter Pfad durch einen hübschen Teil von Elwynn gewesen war, glich nun einem Schlachtfeld. Keinem richtigen Schlachtfeld, auf dem sich Soldaten und Armeen trafen, sondern einem der schlimmsten Art: der Art, bei der Sensen, Mistgabeln und kleine Äxte als Waffen herhalten mussten und die „Soldaten“ eigentlich Bauern und Dorfbewohner waren. Überall lagen zertrümmerte und umgekippte Karren herum. Ein Teil der Fracht, wie Leinen und Wolle, war durchwühlt und achtlos beiseitegeworfen worden. Bei mehreren Bäumen waren die Äste abgehackt oder von Waffen zerschmettert worden, die so groß gewesen sein mussten, dass Lothar alle Mühe hatte, sie sich auch nur vorzustellen.
Und es gab Blut – sowohl das rote Blut von Menschen als auch, hier und da, Spritzer einer zähen braunen Flüssigkeit. Lothar stieg ab, streifte seinen Handschub ab und berührte die Flüssigkeit, um sie zwischen seinen Fingern zu reiben. Ihm fiel auf, dass hier etwas sehr Wichtiges fehlte: Leichen. Mittlerweile waren auch Medivh und Khadgar abgestiegen. Medivh marschierte voraus, blieb aber plötzlich stehen und ließ sogar seinen Stab einfach los. Khadgar fing ihn auf, bevor er zu Boden fallen konnte. Der Wächter starrte wie gebannt auf einen verbrannten Baumstamm, von dem kränklich-grüner Rauch aufstieg. Die glühende Asche des geschwärzten Holzes funkelte wie Smaragde.
„Das kann nicht sein“, glaubte Lothar Medivh murmeln zu hören.
Er sah, wie Khadgar seine Aufmerksamkeit etwas hinter einen der Karren richtete. „Hier ist ein Leichnam“, sagte der Junge, ehe er ausrief: „Wächter!“
Dann nahm Lothar eine verschwommene, schemenhafte Bewegung wahr. Er drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie einer seiner Ritter durch die Luft geschleudert wurde, Rüstung und Brust von einem Wurfhammer eingeschlagen, der etwa ein Drittel seiner Größe hatte.
Schlagartig erfüllte grässlichen Brüllen den bis dahin stummen Wald, und dann stürmten die Bestien, die sie gesucht hatten, auf die Lichtung, tauchten einfach auf wie aus dem Nichts, sprangen von den Bäumen.
Riesen – bewaffnete Riesen.
Sie reiten auf Wölfen.
Mächtige, unaufhaltsame Bestien …
Lothars erster, absurder Gedanke beim Anblick dieser Kreaturen war, dass die Gerüchte der Wahrheit nicht einmal ansatzweise gerecht wurden.
7
„Mutter der …“, flüsterte Herr Evran. Genau wie die anderen, genau wie Lothar selbst, war auch er wie erstarrt, wie an der Erde festgewurzelt, als die Monster vorwärtsstürmten.
Sie waren groß wie Trolle, und genau wie Trolle hatten sie Stoßzähne und waren mit Tätowierungen, Knochen und Federn geschmückt. Allerdings waren sie nicht einfach nur groß, sondern dazu auch ungeheuer massig. Ihre Brustkörbe waren gewaltig, ihre Hände groß genug, um den Schädel eines Menschen ohne Mühe zu umschließen und zu zermalmen, und die Waffen, die für diese Pranken gemacht waren …
Die größte von allen brachte Herrn Evran zum Schweigen, bevor er auch nur seinen Satz beenden konnte. Das Monster überragte die anderen, hatte über und über tätowierte Hände und stürzte sich mit einer Schnelligkeit und Kraft auf den Ritter wie eine der Raubkatzen aus dem Schlingendorntal. Schon sauste ein gewaltiger Kriegshammer auf den unglückseligen Herrn Evran hernieder. Dann drehte sich das ungeheuerliche Ding um, um – beinahe beiläufig – ein wieherndes Pferd in die Luft zu heben und wegzuschleudern, als wäre das Tier kaum mehr als ein Sack Hafer. Das Pferd landete auf zwei Soldaten und zerquetschte sie unter seinem Gewicht. Eine weibliche Kreatur, deren Haut eher grünlich als braun war, lachte irre beim Anblick dieses Spektakels.
Das alles passierte in der Spanne vom einem Herzschlag zum nächsten.
Herr Kyvan brüllte vor Zorn, doch verglichen mit dem Dröhnen der Bestien klang seine Stimme dünn und schrill. Er riss seine Klinge in die Höhe und stieß das Schwert des grüngetönten Ungetüms zur Seite. Die Kreatur grunzte überrascht und schien dann zu grinsen, als sie sich dem tapferen Kyvan zum Kampf stellte. Obwohl sein Gegner doppelt so groß war wie er, gelang es Kyvan, seinen Mann zu stehen, bis das Ding beinahe beiläufig ein Rad von einem der Karren riss und es Kyvan gegen den Schädel schmetterte.
Das Monster schaute auf und grinste mit seinen grässlichen Stoßzähnen – nur um ins Straucheln zu geraten, als Lothar ihm seinen Schild ins Gesicht hämmerte. Der Kopf des Monsters zuckte zurück, und sofort schwang Lothar sein Schwert und schlitzte der Bestie die Halsschlagader auf. Blut spritzte heraus, das ebenso grün war wie die Haut, und die Kreatur stürzte tot zu Boden.
Zumindest in einer Hinsicht erwiesen sich die Gerüchte als falsch: Die Bestien waren nicht unaufhaltsam.
Khadgar stierte mit offenem Mund das riesige Ding an, das ein ausgewachsenes Pferd fünf Meter weit durch die Luft geschleudert hatte. Offenkundig der Anführer der Monsterschar, wütete das Ungetüm auf der Lichtung, griff nach seiner Streitaxt, die fast so groß war wie Khadgar selbst, und schwang sie in einem weiten, flachen Bogen, um zwei gepanzerte Ritter sauber mittendurch zu hauen. Überallhin spritzte Blut, während das Ding seinen Kopf in den Nacken warf und ein freudvolles Brüllen ausstieß. Ringsherum töteten weiße und graue Wölfe, die fast so groß wie Bären waren, mit derselben Schnelligkeit, Macht und Wildheit wie ihre Reiter.
Khadgar riss seinen entsetzten Blick von dem Gemetzel los, um zu sehen, was Medivh tat, in der Annahme, ihm vielleicht helfen zu können. Seine Eingeweide verkrampften sich noch mehr, als er erkannte, dass der Wächter von Azeroth nicht das Geringste tat. Medivh stand einfach nur da und starrte vor sich hin.