Eine der Bestien kam auf Khadgar zugestürmt. Der Junge schrie einen Zauber hinaus, und ein arkaner Blitz schoss aus seiner Hand, traf die Kreatur in die Brust und holte sie von den Beinen. Khadgar schüttelte sich und sprach schnell und deutlich, um einen schützenden Kreis um sich und Medivh zu ziehen. Die Luft schimmerte und umschloss sie mit einer kleinen, funkelnd blauen Blase. Wenn der Wächter schon nicht bereit war anzugreifen, würde der einstige Novize eben dafür sorgen, dass diese Dinger sie beide nicht in Stücke schlugen.
Ein schrilles Wiehern hinter ihnen ließ den jungen Magier herumwirbeln, und plötzlich sah er sich einer der Bestien von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Lothars Schwert troff von grünlich braunem Blut, während er seinen Blick über die Lichtung schweifen ließ. Seine Ritter waren den Bestien zwar zahlenmäßig fast im Verhältnis vier zu eins überlegen, doch die Monster gewannen dennoch die Oberhand. Mehrere gute Soldaten lagen am Boden, entweder tot oder sterbend, und …
Callan.
Callan sah nicht, dass die Axt ihn im nächsten Augenblick …
Lothar bewegte sich bereits, bevor sein Verstand überhaupt begriff, was er tat, sprang vor und nutzte seinen Körper, seinen Schild und sein Schwert allesamt als Waffen. Das Biest war darauf in keiner Weise gefasst, und Lothars Klinge fand ihr Ziel und bohrte sich dem Ding tief in die ungeschützte Brust.
Callan starrte dankbar zu seinem Vater auf. „Versuch gar nicht erst, sie mit brutaler Gewalt zu bezwingen“, keuchte Lothar. Er trat gegen den Kadaver der Kreatur und rollte sie von seinem Sohn herunter. „Sie sind stärker als wir. Also musst du schlauer sein.“
Er streckte seinem Sohn seine freie Hand hin. Callan hob den Arm, um sie zu ergreifen. Doch noch während sich Callans Augen – einer stummen Warnung gleich – ruckartig weiteten, spürte Lothar, wie sich etwas um seine Hüfte schlang, das dick und kräftig wie ein Baumstamm war und ihn nach hinten riss. Er landete hart und schmerzhaft; das Schwert wurde ihm aus der Hand geschleudert, und seine Rüstung erwies sich nur als Hindernis, als das Monster – der Anführer der ganzen grässlichen Meute – spöttisch grinsend auf ihn zukam.
Die riesige Axt, die nur Sekunden zuvor zwei Männer halbiert hatte, war nirgends zu sehen. Entweder hatte die Bestie sie geworfen oder irgendwo liegen gelassen oder einfach bloß entschieden, dass es sie gerade nicht brauchte. Lothar wusste nicht, was davon zutraf, und es scherte ihn auch nicht. Heißer Speichel tropfte ihm ins Gesicht, als die Oberbestie mit ihrer übergroßen rechten Hand einen Hammer hob und mit der anderen nach Lothar griff.
Gleichwohl, Lothar war nicht bereit, sich in das vermeintlich Unvermeidliche zu fügen. In dem zweifellos vergeblichen Versuch, sich aufzurappeln, stützte er sich mit den Händen links und rechts seiner Hüfte ab. Dabei streifte seine Rechte etwas Fremdes, Unvertrautes, und einen Moment lang hatte er keine Ahnung, was das war. Dann fiel es ihm wieder ein.
Das ist ein Donnerstock.
Er hatte ihn sich in den Gürtel geschoben und vollkommen vergessen – bis jetzt. Es gelang Lothar, Magnis Geschenk weit genug herauszuziehen, um damit auf die herabsausende Hand zu zielen. Die mächtigen Finger der Kreatur schlossen sich um die Waffe. Lothar drückte den kleinen, beweglichen Teil – den Abzug. Das darauf folgende Krachen ließ ihn beinah taub werden, doch der Schrei der Bestie war trotzdem noch zu hören. Das Ungetüm wankte rückwärts und starrte auf das rauchende Fleisch am Ende seines Arms, wo sich eben noch seine Hand befunden hatte.
Die Bestie war riesig, mit brauner Haut und zwei gelblichen Stoßzähnen, die aus ihrem übergroßen Unterkiefer in die Höhe ragten. Zu beiden Seiten ihres Kopfes hing je ein dicker Zopf herab; der Rest ihrer schwarzen Mähne war entweder ebenfalls geflochten oder fiel dem Ungetüm locker über die mächtigen Schultern. Die Ohren, so groß wie Khadgars Hände, waren spitz und saßen voller Ringe. Genau wie die anderen Monster trug auch dieses primitiven Schmuck aus Perlen und Knochen. Es hielt eine monströse Axt in einer Hand. Mit der anderen berührte es mit überraschender Behutsamkeit das magische Kraftfeld, das ihn und die Magier voneinander trennte.
Die Augen waren klar, braun und ruhig. Hinter diesen Augen, wurde Khadgar klar, schlummerte ein wacher Verstand.
Und das war das Furchteinflößendste überhaupt.
„Wächter!“, rief Khadgar mit schriller werdender Stimme.
Der Schrei riss Medivh aus der Trance, in der er sich befunden zu haben schien. Er stimmte einen Sprechgesang an, und Licht folgte den Gesten seiner zeichnenden Finger wie Tinte aus einem Federkiel, bis ein Siegel in der Luft hing.
Das Biest ließ die Hand sinken, und seine allzu intelligenten Augen richteten sich unverzüglich auf Medivh, um ihn neugierig zu mustern.
Mehrere plötzliche Blitze aus kränklich-grünem Licht schossen über die Lichtung. Khadgar keuchte, und das Biest sprang zurück, doch ihrer beider Augenpaare waren ungläubig auf ihre Umgebung gerichtet.
Khadgar war aufgefallen, dass die Haut einiger Monster Untertöne von Grün aufwies – der Farbe der Fel-Magie. Zwar hatte er seit ihrer Ankunft hier keine Zeit gehabt, darüber mit Medivh zu sprechen – oder überhaupt über irgendetwas –, doch er war sich sicher, dass dem Wächter dieser Umstand ebenfalls nicht entgangen war. Als er jetzt hinschaute, ließen sämtliche Bestien, die diese bestimmte Färbung aufwiesen, ihre Waffen fallen und fingen, von Krämpfen geschüttelt, an zu schreien. Gezackte, spindeldürre Finger aus grünem Licht strahlten von den heimgesuchten Kreaturen aus, um in Bögen geradewegs zu Medivh zu schießen, der mit ausgestreckten Händen dastand, die Handflächen erhoben. Vor Khadgars Augen wurde die Haut der Bestien blasser, ihre Muskeln schrumpften, und dann brachen sie eine nach der anderen zusammen, um zu zerbröseln wie Stücke trockener Erde zwischen den Fingern eines Kindes.
Ein spontanes, erleichtertes Jubeln ging von den Rittern aus, als sie ihre Chance gekommen sahen. „Sie sterben alle!“, rief jemand.
„Nur die Grünen!“, schrie ein anderer. Sie stürzten sich auf die von Krämpfen geschüttelten Bestien, um sie mit ihren Schwertern zu durchbohren, und wandten sich dann ihren geschockten Brüdern zu. „Tötet die Oberbestie!“, brüllte ein Offizier und deutete auf den Anführer der Meute. Das Ungetüm mit der ruinierten Hand schaute sich in offenkundiger Verwirrung um. Khadgar zuckte zusammen, als ein weiteres Dröhnen von Lothars Waffe über die Lichtung schallte. In der massigen Brust eines der Monster erschien ein Loch. Das Ungetüm starrte einen Moment lang darauf herab, ehe es ins Wanken geriet und tot umfiel.
Die Bestie, die außerhalb des Schutzkreises gestanden hatte, wirbelte herum und fing ihren Gefährten auf, ehe er auf dem Boden aufschlagen konnte. Das Ungetüm wog die monströse Gestalt in den Armen, und der Kummer auf seinem hässlichen Gesicht war nicht zu übersehen. Khadgar blinzelte. Irgendwie überraschte ihn das. Allerdings wandelte sich die Miene des Riesen von Sorge und Kummer zu kalter Wut, als er den Mann anstarrte, der seinen Freund erschossen hatte.
„Lasst diese Bastarde den Stahl eurer Klingen schmecken!“, ertönte Lothars Stimme.
Das Biest richtete sich auf, ließ dabei den Leichnam behutsam zu Boden sinken und machte sich bereit, Lothar anzugreifen. Doch bevor Khadgar eine Warnung ausstoßen konnte, packten ihre Kameraden die Bestie und zerrten sie davon. Mit einem letzten, zornigen Blick sprang das Biest auf Medivhs Pferd, riss an den Zügeln und preschte in die Wälder davon. Die anderen folgten ihm, die meisten auf ihren Wölfen, viele aber auch auf gestohlenen Pferden, und einen Herzschlag später war die Lichtung wieder genauso verlassen, wie die Ritter sie bei ihrer Ankunft vorgefunden hatten … bis auf die Leichen, die überall verstreut lagen.
Hinter Khadgar stieß Medivh ein langgezogenes, leises Stöhnen aus. Als Khadgar sich umdrehte, sah er, dass der Wächter von Azeroth blass und erschöpft auf ein Knie gesunken war und sich die Handballen gegen die Schläfen presste.