„Wächter!“, stammelte Khadgar. Er schickte sich an, Medivh zu helfen, doch der andere scheuchte ihn mit einer Geste fort, während er sich auf unsicheren Füßen erhob. „Was … was habt Ihr getan?“
Medivh ignorierte ihn gänzlich, um seine Aufmerksamkeit stattdessen darauf zu konzentrieren, rasch einen weiteren Kreis in den Dreck zu ziehen. Frustriert verharrte Khadgar, wo er war.
„Die Fel-Magie“, sagte er. „Ich hatte recht, oder? Sie ist hier.“ Einmal mehr dachte er an den grünen Farbton, den die Haut einiger der Bestien gezeigt hatte, und an die Blitze, die von ihnen zu Medivh übergesprungen waren, als sie ihre Kräfte eingebüßt hatten.
Dann erkannte er mit einem Mal die Siegel, die der Wächter in den Boden ritzte, und begriff, was sie bedeuteten. Noch eine Teleportation! „Was macht Ihr da? Wo wollt Ihr hin?“
Jetzt schaute Medivh ihn mit seinen grünblauen Augen durchdringend an, und Khadgar war es, als würde der Magier geradewegs in seine Seele blicken. „Schaff die Soldaten sicher wieder nach Sturmwind.“ Er trat in den Kreis. „Ich muss nach Karazhan zurück.“ Er hielt einen Moment lang inne, ehe er sagte: „Du hast dich heute gut geschlagen.“
Dem folgte ein weißer Lichtblitz. Khadgar blieb zurück. Dort, wohin er – blinzelnd wegen der Helligkeit – blickte, war … nichts mehr.
„Wo ist er hin?“ Lothars Ruf klang gleichermaßen besorgt wie zornig, als er zu Khadgar herübergesprengt kam.
Khadgar stellte fest, dass sein Mund staubtrocken war. Er ballte die Hände zu Fäusten, in der Hoffnung, dass sie dann zu zittern aufhörten. Er wusste, dass es nicht das Gefecht war, das ihn derart mitgenommen und verängstigt hatte.
„Nach Karazhan“, berichtete er Lothar leise.
Lothar fluchte, presste die Lippen aufeinander und schüttelte dann den Kopf. „Wir brauchen einen Gefangenen. Wo ist dein Pferd?“
„Sie haben mein Pferd mitgenommen!“
„Tatsächlich?“ Lothars verächtlicher Blick hätte einen ganzen Wald verdorren lassen. „Bleib … einfach hier.“ Zusammen mit zwei Rittern galoppierte Lothar davon. Khadgar widerstand dem Drang, ihn mit einem Zauber von seinem Pferd zu schleudern. Stattdessen starrte er die Stelle an, wo eben noch der Wächter von Azeroth gestanden hatte, ehe er sich mit einem Seufzen umdrehte, um die Leiche einer der Bestien näher in Augenschein zu nehmen.
Nichts war so, wie Durotan es erwartet hatte. Bei seinem letzten Streit mit Schwarzfaust hatte er nachgegeben, doch je länger dieses … dieses Ernten der Kreaturen andauerte, die er „Menschen“ nennen sollte, desto weniger gefiel ihm das Ganze. Doch zumindest hatte er heute nicht das Gefühl, sich Schande gemacht zu haben. Heute hatten sich die Menschen zur Wehr gesetzt, ja, sie hatten sogar Kurvorsh und einige andere mit sich in den Tod gerissen. Das kam zwar überraschend, aber wenigstens war Kurvorsh in der Schlacht gestorben, und Durotan würde ein Lok’vadnod auf ihn singen.
Zumindest würde er das tun, wenn er lange genug am Leben blieb. Nach dem sonderbaren Angriff des älteren Menschen in dem Kreis, den er nicht betreten konnte, hatten die Menschen wie entfesselt gekämpft. Bis er eingewilligt hatte, Gul’dan auf dieser Reise in die Welt Azeroth zu folgen, hatte Durotan noch niemals etwas Derartiges gesehen, und jetzt hatte er gleich zwei ähnliche Zauber erlebt. Was hatte der Menschen-Schamane getan? Oder war er ein Hexenmeister? Vielleicht konnte Drek’Thar ihm erklären, was das alles zu bedeuten hatte.
Die Frostwölfe hatten nur wenige Krieger verloren, doch die Menschen waren ihnen noch immer auf den Fersen. Durotan verspürte keinen Wunsch, den Reihen der Gefallenen noch weitere Angehörige seines Clans hinzuzufügen, bis sie wussten, womit sie es hier zu tun hatten. Er kauerte weit vorgebeugt auf dem gestohlenen Reittier, seine mächtigen Hände um den Kopf der Kreatur geschlossen, und wies der panischen Flucht des Geschöpfs die richtige Richtung.
Dann erhaschte er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung – irgendetwas Grünes. Das war Garona, Gul’dans Sklavin. Sie war zwar nach wie vor eine Gefangene, doch jetzt war sie an einen Toten gefesselt. Die Kette, die an ihrem dürren Hals begann, führte zu einem bleichen Leichnam – zum Leichnam von einem der grüngetönten Orcs, die eben auf so geheimnisvolle Weise umgekommen waren. Sie versuchte verzweifelt, die Kette zu zerbrechen, und schaute hektisch in die Richtung, aus der Durotan kam.
Unbewaffnet, an einen toten Aufpasser gebunden und um so vieles schwächer als ein wahrer, vollblütiger Orc, war sie jämmerlich leichte Beute für die Menschen. Sie würden ihren winzigen Leib mit einem einzigen Hieb von einem ihrer kleinen Schwerter entzweihauen. Durotan hätte sie einfach ihrem Schicksal überlassen sollen; ein Geschöpf wie sie war es nicht wert, sein Volk für sie in Gefahr zu bringen.
Allerdings hatte die Sklavin Garona versucht, Durotan vor Gul’dan zu warnen, als der Hexenmeister den Frostwölfen seinen zweiten Besuch abgestattet hatte, und seit sich der Clan der Horde angeschlossen hatte, hatte Durotan mehr als einmal bedauert, nicht auf ihre Worte gehört zu haben. Außerdem war Draka ihr mit Mitgefühl und Freundlichkeit begegnet, wohl, weil die Halborcin sie an ihre eigene zeitweilige Verbannung von den Frostwölfen erinnerte.
Durotan traf einen Entschluss. Er drehte den Kopf des Tieres in Richtung der Sklavin, hob Spalter und ließ die gewaltige Streitaxt auf die Eisenkette niedersausen, die ohne Weiteres zersprang. Dann streckte er ihr die Hand entgegen, bereit, sie hinter sich auf den Rücken des Reittiers zu ziehen und in Sicherheit zu bringen.
Garona starrte die ihr dargebotene Hand an. Ihr Blick glitt zu seinem Gesicht, und einen Moment lang zögerte sie.
Dann lief sie unvermittelt los und rannte in den Wald – zurück in ebenjene Richtung, aus der sie beide kamen. Sie würde lieber sterben wie ein Orc als weiter wie eine Sklavin zu leben.
Zwar kam ihre Wahl mit ziemlicher Sicherheit einem Todesurteil gleich, doch Durotan hatte Verständnis dafür. Ja, er ertappte sich sogar dabei, dass er ihr ihre Entscheidung nicht verübeln konnte.
Fel-Magie. Khadgar war sich beinahe sicher, dass das, was er zwischen den Bestien und Medivh fließen gesehen hatte, Fel-Magie gewesen war, doch bei diesem Leichnam zeigte sich keine Spur mehr davon. Als Khadgar – sorgsam darauf bedacht, sich vor den scheinbar rasiermesserscharfen Zähnen in Acht zu nehmen – vorsichtig die Lippen der Kreatur geöffnet hatte, war kein verräterischer grüner Nebel aus dem Mund des Ungetüms gesickert.
Jetzt hielt er unvermittelt inne. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er stand auf und schaute sich um. Die verbliebenen Ritter versorgten die Verwundeten, bereiteten die Leichen der Menschen für den respektvollen Transport nach Hause vor und kümmerten sich um die Kadaver der Bestien, denen eine weit weniger respektvolle Reise bevorstand.
Der junge Magier schloss für einen Moment die Augen und öffnete sich der natürlichen Welt um sich herum. Da war das Rascheln von Blättern im Wind, das Summen von Insekten. Vogelgesang.
Nein, kein Vogelgesang. Genauso, wie da kein Vogelgezwitscher gewesen war, als …
Er wirbelte herum, eine Hand ausgestreckt, die Finger gespreizt. Magie knisterte auf seiner Handfläche, als er die Hand nach vorn stieß.
Der Angreifer, der sich just in diesem Augenblick von oben aus den Bäumen auf ihn stürzte, wurde von dem Zauber getroffen. Er hing mitten in der Luft wie festgenagelt, den Rücken gegen die raue Borke eines großen Baums gepresst, knurrte ihn an und wand sich ungeduldig.
Khadgars Augen weiteten sich, als er die Bestie, die er soeben gefangen hatte, genauer ansah.
„Hier drüben!“, rief er, ohne den Blick von seinem Gefangenen abzuwenden. Er hörte das Geräusch von Hufschlag hinter sich, und dann tauchte Lothar neben ihm auf – zusammen mit einem gewaltigen Ungetüm, das bewusstlos und gefesselt über dem Rücken eines zweiten Pferdes lag.