„Dies ist nicht Orc-Welt“, sagte sie rundheraus. Die Andeutung eines Lächelns kräuselte ihre Lippen. „Orc-Welt ist tot. Darum Orcs wollen jetzt diese Welt.“
„Ihr seid nicht von dieser Welt?“ Llane wirkte komplett verwirrt.
Was im Übrigen ebenso für Taria und so ziemlich alle anderen im Saal galt. Khadgar schien sich beinah körperlich anstrengen zu müssen, um seine Gedanken für sich zu behalten. Allerdings wurde ihr bewusst, dass sie sich alle auf das Falsche konzentrierten. Llane war Idealist. Und obgleich das ein Teil dessen war, was ihn zu einem so großartigen König machte, war er weise genug, sicherzustellen, dass er von Menschen umgeben war, die pragmatischer waren als er selbst. Falls das, was die Orcin sagte, stimmte, war das natürlich eine bedeutende Erkenntnis – doch im Augenblick galt es, Leben zu retten, und nicht, neue Karten zu zeichnen.
„Wie seid ihr hierher gelangt?“
Die Stimme schnitt messergleich durch die Luft im Thronsaal. Medivh stand in der Tür, sein Körper angespannt wie eine Bogensehne. Wie lange hat er schon zugehört?, fragte sich Taria.
Schlagartig richtete Garona ihren Blick auf Medivh. Sie marschierte mit großen Schritten auf ihn zu; offenbar hatte sie vor ihm ebenso wenig Angst wie vor jedem anderen.
„Durch das Große Tor. Tief im Boden. Uralte Magie brachte uns her.“
Medivh trat vor. „Ihr seid also durch ein Portal gekommen“, sagte er.
„Aber wo hast du unsere Sprache gelernt?“, platzte es aus Khadgar heraus, als es ihm schließlich nicht mehr länger gelang, an sich zu halten.
Die Orcin wandte dem Jungen ihren dunklen Blick zu. „Orcs nehmen Gefangene für das Portal. Ich habe von ihnen gelernt …“
Llane unterbrach sie; ihre Worte hatten seine Stimme und seinen Körper mit Anspannung erfüllt. „Gefangene wie uns? Von unserem Volk? Leben sie noch?“
„Ja“, entgegnete Garona. „Viele.“
„Aber wozu?“, fragte Khadgar.
Die Orcin sah jene, die sie mit Fragen bombardierten, der Reihe nach an und hob ihr Kinn. Als sie antwortete, blitzten ihre Augen, und in ihrer Haltung lag ebenso viel Stolz, wie in ihrem Ton: „Um das Tor zu speisen. Um die Horde herzubringen. Um eure Welt zu erobern.“
Niemand sprach. Taria konnte kaum glauben, was sie da gerade gehört hatte. Ein großes Portal, das nach menschlichen Gefangenen gierte. Eine Horde von Wesen wie Garona, die nach Azeroth hineindrängten, um es zu unterjochen. Natürlich war es ihr Gemahl, der herrschte, und nicht sie, doch er teilte nahezu alles mit seiner Königin, und in ihren gemeinsamen Jahren hatte sie viele besorgniserregende Dinge erfahren. Jedoch nichts so Furchteinflößendes wie dies.
Um eure Welt zu erobern.
„Du wirst uns zu ihnen führen.“ Das war ihr Bruder, der die brütende Stille auf seine übliche Art und Weise durchschnitt.
Garona grinste spöttisch. „Nein.“
Lothar lächelte. Taria kannte dieses Lächeln und wusste, dass es nicht gut um jene bestellt war, denen es galt. „Du wirst uns zu ihnen führen“, wiederholte er beinahe freundlich. „Andernfalls endest du wie dein Freund im Käfig.“
Garona ging langsam auf ihn zu, kniete sich neben ihn auf die Stufe und brachte sein Gesicht dicht an das seine. „Haltet ihr euch für so furchterregend?“, murmelte sie. „Orc-Kinder haben Haustiere, die furchterregender sind als ihr.“
Taria glaubte ihr.
„Wir versuchen nicht, furchterregend zu wirken, Garona“, sagte Llane; er sprach ruhig, in dem Bestreben, die Spannung im Saal zu entschärfen. „Wir versuchen nur, unser Volk zu beschützen. Unsere Familien.“
Wie es schien, war das genau die falsche Taktik, da ein dunkler Schleier über Garonas attraktive Züge fiel. „Was kümmern mich Familien?“, entgegnete sie in eisigem Tonfall, ohne ihren Blick von Lothar abzuwenden. Und Taria wurde klar, dass Garona Familie ungeachtet ihrer Worte sehr viel bedeutete.
„Wenn du uns hilfst“, sagte Llane, „leiste ich hier und jetzt den Schwur, dass ich auch dich beschützen werde.“
Ihre Brauen – dunkel und anmutig wie Rabenschwingen – zogen sich zusammen. Schließlich schaute Garona von Lothar zum König hinüber.
„Schwur? Was ist … Schwur?“
Durotan und Orgrim standen zusammen mit den übrigen Häuptlingen und ihren Stellvertretern in Gul’dans Behausung. Durotan, die Frostwölfe unter seinem Kommando, und Schwarzfaust waren bereits vor einigen Stunden zurückgekehrt, doch man ließ sie warten, bis die Sonne untergegangen war. Die Frostwölfe hatten die Zwischenzeit genutzt, um ihre Toten zu betrauern, und getan, was sie konnten, um ihr Hinscheiden ohne einen rituellen Scheiterhaufen zu ehren, wie es bei ihnen eigentlich Brauch war. Das einzige Licht in dem großen Zelt stammte von einer großen, glühenden Kohlenpfanne, die ein wenig nach links versetzt ein bisschen hinter Gul’dans üppig verziertem Stuhl stand.
Der Feuerschein war von ungesundem, blassem Grün und zeichnete scharfe Konturen der Gesichtszüge von Gul’dan und Schwarzfaust. Der Kriegshäuptling kniete vor dem Hexenmeister, einer von ihnen muskulös und stark, der andere gebeugt und scheinbar schwach. Gleichwohl, alle Anwesenden wussten, wer von den beiden der Mächtigere war.
Auch Schwarzfaust selbst.
Gul’dan stützte sich auf seinen Stab und musterte Schwarzfaust von Kopf bis Fuß. „Allseits gefürchteter Schwarzfaust, Kriegshäuptling der Horde“, sagte er, und seine Stimme troff von Verachtung wie von Eiter. „Du hast zugelassen, dass die Kleinzähne deine Krieger töten! Schlimmer noch, du hast dein Volk beschämt, indem du vor dem Feind davongelaufen bist.“
Schwarzfaust entgegnete nichts darauf. Durotan sah, wie er seine verbliebene Hand zur Faust ballte und wieder entspannte; die dunkle Tinte darauf absorbierte die grüne Helligkeit der Fel-Magie-Flammen fast zur Gänze. Er versuchte, seine Miene teilnahmslos zu halten, doch Durotan konnte den Schmerz in seinen Augen sehen.
Gul’dan stieß den größeren Orc mit seinem Stab an. „Bist du zu schwach, um zu sprechen, Zerstörer?“
Schwarzfaust schüttelte den Kopf, doch selbst jetzt erwiderte er nichts. Orgrim beugte sich zu Durotan hinüber und sagte leise: „Ich hege keine Zuneigung für Schwarzfaust, doch wenn ich das hier sehe, tut selbst er mir leid.“
Durotan teilte seine Gefühle. Die Frostwölfe hatten zu den letzten Clans gehört, die sich der Horde angeschlossen hatten, und er war sich durchaus darüber im Klaren, dass es in den Jahren seit der Gründung der Horde eine Menge Machtkämpfe gegeben hatte. Ordnung und Rangfolge waren etabliert, Belohnungen und Bestrafungen verhängt worden. Schwarzfaust hatte in der Schlacht bereits seine Hand verloren, und Durotan war nicht sonderlich erpicht darauf, mit anzusehen, was sein Versagen ihn sonst noch kosten würde.
Gul’dan nutzte seinen Stab, um sich noch ein wenig mehr aufzurichten. Mit zorniger, schwerer Stimme sagte er: „In der Horde ist kein Platz für Schwäche. Erweise unseren Traditionen Respekt. Du kennst die Strafe, die dich erwartet.“
Schwarzfaust ließ seinen Blick über das Meer stummer, wachsamer Gesichter schweifen, auch wenn er sich darüber im Klaren sein musste, dass er keine Hilfe zu erwarten hatte. Er senkte resigniert den Kopf, ehe er auf die Füße kam und auf die grüne Kohlenpfanne zuschlurfte.
„Der Tod“, sagte Gul’dan.
Der Kriegshäuptling hielt seine verstümmelte Hand über die flackernde, hungrige grüne Flamme. Dann atmete er tief durch, schob den Arm vor und stieß das Gliedmaß tief in die leuchtende Glut.
Durotan verfolgte entsetzt, was geschah. Das Fel-Magie-Feuer verbrannte Schwarzfausts Fleisch nicht einfach – es labte sich daran wie ein lebendes Wesen und wand sich einer vorrückenden Armee gleich seinen Arm empor.
Schwarzfaust schrie nicht. Er hob seinen verstümmelten, grün umwölkten Arm und wartete auf seinen Tod, während die Fel-Magie höher kroch.
Durotan konnte das grausame Schauspiel nicht länger ertragen. Bevor er auch nur recht begriff, was er tat, hielt er Spalter in der Hand, und einmal mehr wurde die Axt ihrem Namen gerecht, als er sie hob und niedersausen ließ, um Schwarzfausts Unterarm sauber abzutrennen. Der abgetrennte Teil fiel zuckend und ruckend zu Boden, während Schwarzfaust zusammenbrach. Sogleich zerbröselte die grüne Gliedmaße in verkohlte Brocken.