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„Der Schwarze Morast. Was haltet ihr davon?“

Karos hob die Augenbrauen. „Da drin könnte man eine ganze Armee verstecken.“

„Oder eine verlieren“, hielt Varis dagegen. „Glaubt Ihr ihr, Herr?“

„Nein.“ Das war unverblümt und die Wahrheit. Khadgars Reaktion auf die grüne Frau war Lothar nicht entgangen, und er musste zugeben, dass sie ungeachtet all ihrer Fremdartigkeit ausgesprochen attraktiv war. Und sie war nicht im Geringsten so wie die Monster, die sich im Wald von Elwynn mit solch furchteinflößender Gewalt auf sie gestürzt hatten. Allerdings wäre er ein Narr gewesen, wenn er dieser Garona einfach blind vertraut hätte, und für Narren hatte König Llane Wrynn nicht viel übrig.

„Aber … das ist der einzige Hinweis, den wir haben“, fuhr er fort, „und wir müssen ihm nachgehen. Die besten Pferde, nur eine kleine Eskorte. Schauen wir mal, ob man dieser Orcin trauen kann. Wir brechen bei Sonnenaufgang auf.“ Sie nickten und eilten davon. Er sah einen Moment lang zu, wie sie sich entfernten, ehe er weiter nach vorn trat.

Medivh erwartete ihn bereits. „Ich werde dich nicht begleiten“, sagte der Wächter.

Lothar biss die Zähne zusammen. Was war in den vergangenen sechs Jahren nur mit Medivh geschehen? Er, der Wächter und der König waren einst Freunde – ja, sogar mehr als Freunde, fast schon Blutsbrüder gewesen. Sie hatten gemeinsam gekämpft, gemeinsam gelitten. In der Stunde seines größten Verlusts waren beide für ihn da gewesen, als …

„Nun, ich für meinen Teil muss wissen, womit wir es zu tun haben. Denkst du nicht, es könnte hilfreich sein, die feindlichen Streitkräfte mit eigenen Augen zu sehen?“ Es gelang ihm nicht ganz, den Zorn zu unterdrücken, der in ihm schwelte, und die Sorge, aus der er erwuchs.

Medivh wich seinem Blick aus. „Ich muss mich um gewisse Angelegenheiten kümmern.“

Lothar begriff, dass er hier mit Feinsinn nicht weiterkam. Er ging zu seinem alten Freund hinüber und sah ihn fragend an. „Was ist heute mit dir passiert?“ Seine Worte waren Frage und Anklage zugleich.

„Ich habe unseren Feind studiert – mit eigenen Augen“, entgegnete der Wächter gemessen und wohlüberlegt.

Lothar schnaubte angriffslustig. „Wäre der Junge nicht da gewesen, hättest du die Klinge einer Axt studiert.“

Medivh zuckte lakonisch die Schultern. „Es lag in seiner Hand.“ Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Du solltest ihn mitnehmen. Er ist mächtiger, als du glaubst.“

„Medivh …“, begann Lothar, doch dann war da ein wirres Gestöber von Bewegungen, und im nächsten Moment sprach er mit einem Raben. Der Vogel schlug mit dem Schwanz und breitete seine Schwingen aus, um durch das Fenster zu fliegen und zu entschwinden.

„Ich hasse es, wenn er das tut“, murmelte Lothar.

Lothar schien sich seiner immer noch nicht ganz sicher zu sein, überlegte Khadgar, als er vor seinem Zimmer in einem der Gasthäuser von Sturmwind der Wache zunickte, die draußen vor seiner Tür stationiert war. Das machte ihm allerdings nichts aus; das Misstrauen des Hauptmanns würde sich früher oder später wohl legen. Khadgar war jetzt jedenfalls genau da, wo er sein wollte. Lothar hatte ihn gebeten … gut, also, er hatte Khadgar mitgeteilt, dass er ihn in den Schwarzen Morast begleiten würde, um dem Hinweis nachzugehen, den Garona ihnen gegeben hatte.

Er trat ein und entzündete rasch eine Lampe. Seine Gedanken rasten. Garona. Orcs. Fel-Magie. So viele Informationen. Als er die Tür schloss und verriegelte, musste Khadgar sich wohl oder übel eingestehen, dass es ihm gefehlt hatte, Dinge zu lernen. Gewiss, sein Leben hier in Sturmwind, als ganz gewöhnlicher Bürger, war besser, als so etwas wie der ultimative Laufbursche der Kirin Tor zu sein, doch bis jetzt war sein Dasein hier ziemlich ereignislos verlaufen.

Der Schwarze Morast – groß genug, um eine Armee darin zu verstecken. Eine kluge Vermutung für jemanden, der nicht aus dieser Welt stammte. Das hieß, falls Garona in dieser Hinsicht die Wahrheit sagte. Seine Gedanken verweilten noch einen Moment länger bei ihr; sie sah so fremdartig aus, und dennoch fühlte er sich von ihr angezogen. Obwohl sie eine Gefangene war, wirkte sie so stark, so selbstsicher.

Gleichwohl, jetzt verlangte etwas anderes nach seiner Aufmerksamkeit. Er griff unter sein Hemd und holte das Buch hervor, das er vor einer Ewigkeit, wie es ihm schien, unter seinen Kleidern verborgen hatte. Khadgar hatte Angst gehabt, dass es irgendwann herausfallen würde, doch das war nicht passiert. Bemerkenswert.

Er legte das Buch auf den grob gezimmerten Tisch, atmete tief durch und schlug es auf. Es war dünn, mit einem unscheinbaren Einband, doch schon die ersten paar Seiten genügten, um ihm den Atem zu verschlagen. Runen füllten das Papier, und nachdem er vorsichtig weitergeblättert hatte, weiteten sich seine Augen, als er auf eine aufwendige Illustration stieß.

Das Bild zeigte eine Schar von Kreaturen, die große Ähnlichkeit mit den Bestien aufwiesen, gegen die er heute gekämpft hatte. Sie drängten sich eng zusammen, eine dichte, vereinigte Meute, die Waffen aller Art in Händen hielt. Und diese Meute von Kriegern ergoss sich aus einem gewaltigen Steingebilde wie Wasser aus einem umgestülpten Krug.

„Ein ‚großes Tor‘“, flüsterte Khadgar; Gänsehaut ließ seine Arme kribbeln.

Seine Augen wanderten vom Anblick der brüllenden, zornigen Orcs zu dem Runentext über der Zeichnung. Zwei Glyphen waren eingekreist worden, und jemand hatte etwas an den Seitenrand gekritzelt: Licht gebiert Dunkelheit, und Dunkelheit gebiert Licht. Fragt Alodi.

Khadgar wiederholte die Worte bei sich, packte seine Schreibutensilien aus und tauchte seinen Federkiel in die Tinte. Er nahm einen tiefen Atemzug, ehe er ein dünnes Pergament über das Buch legte und anfing, das verstörende Bild abzuzeichnen.

Sie hatten Garona gesagt, dass es das Privatgefängnis des Königs sei. Es war kein Ort der Folter. Es gab sogar Fenster nach draußen. Der Mond schien herein und tauchte den Raum in silbriges Licht, und der Anblick des Gestirns ließ Garona das Herz schwer werden. Trotz allem war das hier ein Käfig, und trotz allem war sie nicht frei.

Der Käfig war klein und an drei Seiten von Gitterstäben umgeben. Darin befand sich etwas, das sie als „Pritsche“ bezeichneten und zum Schlafen gedacht war. Darauf lagen Tücher, die ihr fremd waren, und sie sah überhaupt keine Schlaffelle. In der Ecke stand ein kleiner Topf – wozu, vermochte sie nicht zu sagen. Es gab einen Tisch und einen Krug mit Wasser sowie ein nutzloses kleines Gefäß. Sie hatten Essen für sie dagelassen, das ihr nicht minder fremd war, doch sie hatte trotzdem jeden Bissen davon verschlungen, um bei Kräften zu bleiben. Jetzt hob sie den Krug und trank das kühle Wasser.

Als sie den Krug wieder abstellte und sich den Mund abwischte, sagte sie zu dem Schatten im Raum: „Ich sehe dich.“

Dann stand derjenige vor ihr, den sie den Wächter nannten; er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und seine Augen, hell und neugierig wie die eines Vogels, ruhten auf ihr. Jetzt trat er vor in das Licht, das einige wenige Fackeln spendeten, und ging um ihren Käfig herum.

„Dieses Portal“, sagte er. „Von wem weiß Gul’dan davon? Wer hat ihn nach Azeroth geführt?“

Er kam gleich zur Sache. Das gefiel ihr. Garona wog ihre Antwort ab und sagte dann: „Gul’dan bezeichnete ihn als Dämon.“

Der Wächter – „Medivh“ hatte einer der Menschen gesagt – zeigte keine Reaktion. „Bist du ihm begegnet?“

Das war eine Erinnerung, die Garona am liebsten aus ihrem Gedächtnis verdrängt hätte. Zwar war sie imstande, rasch neue Sprachen zu lernen, doch die Orc-Zunge war recht blumig, wenn es um gewisse Dinge ging, und sie hatte Mühe, das Erlebte in menschliche Worte zu kleiden. „Ich habe ihn nicht gesehen. Nur die Stimme gehört. Wie …“ Ihr Blick fiel auf das flackernde Licht der Fackel. „Wie Feuer und Asche.“ Das war keine Beschreibung ihres Klangs; das beschrieb, wie es sich anfühlte, diese Stimme zu vernehmen. Sehr Orc-typisch.