„Orgrim … findest du es nicht auch irgendwie seltsam, dass wir unser Zuhause ausgerechnet in dem Moment verloren haben, als Gul’dan an die Macht kam?“
Orgrim schnaubte verächtlich und wollte schon loslachen. Dann jedoch schwand sein Lächeln, als ihm klar wurde, dass Durotan es todernst meinte. „Ein Orc allein kann keine ganze Welt vernichten, Durotan.“
„Bist du dir da so sicher? Schau dich doch einmal um. Erinnert dich das nicht an etwas?“ Er bedeutete Orgrim, seinen Blick nicht auf den lockenden Wald und den fernen Schnee zu richten, sondern auf das, was hinter ihnen lag. Auf das Große Portal und das Land darum herum. Einen Moment lang legte Orgrim verwirrt die Stirn in Falten, doch dann sah Durotan, wie sich Begreifen auf dem Antlitz seines Freundes ausbreitete.
Als sie in diese Welt kamen, war das Land in der Nähe des Portals ein Sumpf gewesen. Draka hatte Durotans Sohn – auf Händen und Knien kauernd – in Brackwasser geboren. Jetzt war da bloß noch Erde, ausgetrocknet und durstig. Die Pflanzen, die es hier einst gab, waren längst tot, verdorrt und unter orcischen Füßen zu Staub zermahlen, als Durotans Volk riesige Steine bewegte, um ein Tor zu errichten.
Der Anblick erinnerte ihn tatsächlich an etwas.
Hier sah es genauso aus wie auf der anderen Seite des Portals, wie in dem Land, aus dem sie geflohen waren. Unterschiedlichste Gefühle kämpften auf Orgrims Gesicht um die Vorherrschaft.
Durotan wusste, dass er viel von Orgrim verlangte. Doch er wusste auch, dass er das Richtige tat. „Wo immer Gul’dan seine Magie wirkt … stirbt das Land. Wenn unser Volk hier wirklich ein neues Zuhause finden soll, mein Freund“, sagte Durotan mit vor Emotion rauer Stimme, „dann muss Gul’dan aufgehalten werden.“
Orgrim ließ sich eine ganze Weile Zeit, ehe er antwortete, doch als er es schließlich tat, widersprach er Durotan nicht. Alles, was er sagte, war: „Wir sind nicht stark genug, um Gul’dan zu besiegen.“
„Nein“, pflichtete Durotan ihm bei. Er kratzte sich mit einem scharfen Daumennagel nachdenklich am Kinn. „Doch mit Hilfe der Menschen könnten wir es sein.“
10
Er spielte ein gefährliches Spiel, und seit Lothar und Taria den Thronsaal verlassen hatten, erfüllte Sorge Llane. Dennoch hatte er das Gefühl gehabt, die richtige Entscheidung zu treffen, und dasselbe redete er sich unbeirrt weiter ein, während die Minuten verstrichen. Er stand gerade auf dem Balkon, um seinen Blick über die dunkle Stadt schweifen zu lassen und gleichermaßen düsteren Gedanken nachzuhängen, als Taria zurückkehrte.
Sie hakte sich mit einem Arm bei ihm unter. „Du hattest recht“, sagte sie. „Hier war die Hand einer Frau gefragt. Sie wird Lothar zum Lager der Orcs führen, dieses bedauernswerte Geschöpf.“
„Danke“, sagte er, ergriff ihre Hand und küsste sie.
„Woher wusstest du, dass ich sie zur Vernunft bringen konnte?“
Die Antwort darauf war schwer in Worte zu fassen. Garona war eine erwachsene Frau und nach allem, was über sie berichtet wurde, eine furchtlose Kämpferin. Es war nicht leicht, sich vorzustellen, dass jemand wie sie „verletzlich“ sein konnte, doch er spürte, dass ihre Vorsicht weder von Hass befeuert war noch von Grausamkeit. Sie hatte etwas an sich, das ihn an die Kinder erinnerte, die er im Waisenhaus gesehen hatte – wild, ungezähmt, jedoch verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der hinter diese Fassade blickte und sie so sah, wie sie wirklich waren.
„Sie braucht die Fürsorge einer Mutter“, sagte er schließlich. Er drückte die Hand seiner Gemahlin und zog sie dann in seine Arme. „Und ich wüsste keine Bessere als dich.“
„Schmeichler“, neckte sie und küsste ihn.
Der berittene Aufklärungstrupp bestand aus fünf Leuten: Lothar, Garona, Khadgar, Karos und Varis. Zwar hatten auch die drei Soldaten einen Gutteil ihrer Dienstzeit jenseits von Sturmwind zugebracht, doch für Garona war dies alles natürlich vollkommen neu. Sie war gleichermaßen wach wie aufmerksam; ihre dunklen Augen nahmen alles in sich auf und schätzten alles ab. Wozu?, fragte sich Lothar. Nach Verstecken? Nach Waffen? Nach Flucht- oder Angriffswegen?
Sie trug eine Allianz-Rüstung, und ihr fiel auf, dass ihre Hand hin und wieder zu ihrem Brustpanzer wanderte, als würde sie der goldene Löwenkopf, der dort prangte, immer wieder aufs Neue überraschen. Er schenkte ihr vielleicht mehr Aufmerksamkeit, als er sollte. Heute Morgen hatte er ihr dabei geholfen, die Rüstung anzulegen. Sie hatte ihn um eine Waffe gebeten, und während er ihren Gambeson zuschnürte, hatte er ihr entgegnet: „Du hast mich, um dich zu beschützen.“
„Ich brauche niemanden, der mich beschützt“, hatte Garona daraufhin beteuert. In diesem Moment hatte er innegehalten, sein Antlitz nur Zentimeter von ihrem entfernt, und als sich ihre Blicke trafen, erstarb die geistreiche Erwiderung ungesagt auf seinen Lippen. Zwar hatte er praktisch vom ersten Moment an erkannt, dass Garona ungeachtet ihrer Stoßzähne und der grünen Haut wunderschön war. Doch als sie jetzt so dicht vor ihm stand, wurde Lothar klar, dass sie nicht bloß körperlich ansprechend war. Denn sie hatte recht. Sie brauchte niemanden, der sie beschützte. Vermutlich war sie genauso stark wie er – wenn nicht gar stärker. Gleichwohl, als sein Blick über die Narben glitt, die kreuz und quer über ihren Körper verliefen, wollte er, der Soldat, nichts mehr, als dafür zu sorgen, dass sie in Sicherheit war. Das mochte lächerlich sein und wahrscheinlich auch beleidigend ihr gegenüber … doch es war die Wahrheit.
„Warum siehst du mich so an?“, wollte sie wissen.
Da war er sich selbst nicht sicher.
Lothars Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er lächelte bei sich, als er bemerkte, dass Khadgars Blick unbeirrt auf das Buch gerichtet war, in dem er schon die ganze Zeit las. Er hatte den einzig angenehmen Teil ihrer Reise verpasst, den durch die sicheren Gefilde des Waldes von Elwynn, und nur aufgeschaut, wenn sie anhielten, weil das Blattwerk nacktem Stein wich. Unter ihnen breitete sich Elwynn aus wie ein üppig grüner Wandteppich. Dahinter ragten Sturmwinds weiße Türme in den Himmel empor, so klein wie ein Modell auf König Llanes Schlachtkarte, und selbst Khadgar bewunderte die Aussicht.
Vor ihnen lag der Totenwindpass – ein treffender Name für eine einsame, unwirtliche Gebirgsschlucht voller steiler Wände und schneidender, pfeifender Winde. Eine Abzweigung vom Pfad endete auf einem Vorsprung, wo Lothar beschloss, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Es war klug, an einer Stelle zu nächtigen, wo man lediglich eine einzige Richtung im Auge behalten musste. Natürlich hätten sie noch weiterziehen können, doch der Totenwindpass war schon bei Tageslicht ausgesprochen schwer zu bewältigen, und Lothar konnte nicht riskieren, dass einem ihrer Pferde im Halbdunkel ein Fehltritt unterlief.
„He, Bücherwurm“, sagte er zu Khadgar, als der Magier abstieg und bei seinen Worten zusammenzuckte. „Du übernimmst die erste Wache.“
Garona, die geschmeidig zu Boden glitt, schaute ob dieses Wortes gleichermaßen verwirrt wie amüsiert drein. Sie musterte Khadgar, um seine Reaktion abzuschätzen.
Der Junge schob das Buch in den Bund seiner Hose, während er nach seiner Schlafrolle griff, doch der Blick, den er Lothar zuwarf, zeigte keinerlei Heiterkeit. Und auch Garonas Aufmerksamkeit war ihm nicht entgangen. „Bei allem gebotenen Respekt, Hauptmann, mein Name ist Khadgar“, sagte er.
Lothar hielt sich in gespieltem Entsetzen eine Hand an die Brust. „Ich bitte um Verzeihung, Khadgar. Ich dachte, wir stünden uns näher, seit ich davon abgesehen habe, dich in eine Kerkerzelle zu sperren, weil du in die königliche Kaserne eingebrochen bist.“ Die beiden sahen einander finster an. „Also, noch einmaclass="underline" Du übernimmst die erste Wache.“