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Er befand sich in einem Zustand, den Garona nur zu gut kannte. In einem Zustand, in dem sich Zorn und Trauer und Schuld zu einer unheilvollen Dreifaltigkeit der Pein vereinten. Er mochte ein Soldat sein, doch als er jetzt vor ihr stand, trug er keine Rüstung; er war nackt und verletzlich und außerstande, irgendetwas von dem zu verbergen, das ihn quälte. Sie trat vor und streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren; sie wollte tun, was immer sie konnte, um einen Schmerz zu lindern, der ihn offensichtlich in Stücke zu reißen drohte.

„Er war noch so jung“, flüsterte Lothar. Seine Augen waren gerötet vom Weinen. Sie fuhr mit ihren Lippen über seine bärtige Wange, sich der Schärfe ihrer Stoßzähne sorgsam bewusst, ehe sie ein Stück zurückwich und ihn ansah.

„Mein ganzes Leben lang“, rasselte er, „habe ich noch nie solchen Schmerz verspürt wie in diesem Moment …“

Beim letzten Wort brachen Lothars Stimme und Garonas Herz gleichermaßen. Dann flüsterte er: „Ich will mehr …“

Garona verstand augenblicklich, was er meinte. Ihr gesamtes Leben über hatte sie, die Verfluchte, Qualen gelitten. Gleichwohl, es war nie die körperliche Qual gebrochener Knochen oder aufgerissener Haut gewesen, die sie am meisten schmerzte. Am schlimmsten war der Schmerz, den weder Wundnähte noch Wickel und Heiltränke lindern konnten: der Schmerz der Seele und des Herzens. Mehr als einmal hatte sie Heilung – oder zumindest eine Atempause – von dieser Qual in körperlicher Pein gefunden, die eine Art Ablenkung darstellte und es dem Geist irgendwie erlaubte, seinen eigenen Weg zu finden. Manchmal funktionierte das zwar nicht, manchmal aber doch.

Er hob die Augen, um sie anzusehen, und falls es irgendeinen Zweifel daran gegeben hatte, dass sie ihn liebte und dass sie hierher gehörte, verschwand er in diesem Moment wie Nebel in der Sonne.

Sie streckte die Hand nach ihm aus und berührte sanft sein Gesicht. Er schloss die Augen, und Tränen, warm und feucht, quollen unter seinen fest zusammengepressten Lidern hervor. Dann, ganz langsam, bereit, jederzeit aufzuhören, wenn er dies doch nicht wollte, begann Garona ihre Nägel in sein Fleisch zu graben.

Er riss die Augen weit auf, und in ihren blauen Tiefen sah Garona Verlangen. Lothar streckte die Arme aus, zog sie an sich und versiegelte ihren Mund mit dem seinen.

Und dann verging aller Schmerz, zumindest für den Moment.

16

Ob Tag oder Nacht – das war einerlei. Die Arbeit am Großen Tor ging unbeirrt weiter, ganz gleich, ob bei Sonnenlicht oder Fackelschein, so, wie es jetzt der Fall war. Orgrim warf einen flüchtigen Blick auf die Orcs, die im flackernden Feuerschein schufteten, und auf das Bauwerk, dessen obere Hälfte in der Dunkelheit verschwand. Sie kamen gut voran. Alles würde rechtzeitig fertig sein.

Allerdings beschäftigten ihn noch andere Dinge als das Portal. Vor den Entscheidungen, die dieser Tag mit sich gebracht hatte, war sein Leben einfach gewesen. Seine Wahl hatte stets festgestanden. Es war Durotan, der sich stets den Kopf über die Grauschattierungen zerbrochen hatte; für Orgrim hingegen hatte es nur Schwarz und Weiß gegeben. Gleichwohl, jetzt, da er seine Entscheidung getroffen hatte, verstand er plötzlich, was seinem Freund so zu schaffen gemacht hatte. Jetzt stand Orgrim neben Gul’dan, der auf einem kunstvoll geschnitzten Stuhl auf einer Plattform über dem Tor thronte und die Arbeiten überwachte, so wie gewöhnliche Orcs Ameisen beobachten mussten.

Auf Gul’dans anderer Seite kauerte ein menschlicher Sklave. Offenbar wollte der Hexenmeister, nachdem sich sein Haustier Garona als Verräterin erwiesen hatte, unbedingt den leeren Platz zu seinen Füßen füllen. Allerdings hatte Garona niemals so ausgesehen: bleich, ausgemergelt, ins Nichts starrend. Orgrim konnte die Rippen des Menschen zählen, und das war kein angenehmer Anblick, darum wandte Orgrim den Blick ab und schaute zum Großen Tor hinüber. Er wies auf die zwei Statuen, die das flankierten, was in Kürze die Öffnung des Portals sein würde. Beides waren Verkörperungen derselben Gestalt – eines groß gewachsenen, allzu schlanken Wesens, dessen Gesicht im Schatten einer Kapuze verborgen lag. „Wer ist das?“

„Unser … Wohltäter“, sagte Gul’dan; bei dem Wort verwandelte sich seine Stimme in ein raues Schnurren.

„Eine neue Welt im Tausch für eine Statue?“, spöttelte Orgrim. „Götter sind seltsame Geschöpfe.“

Gul’dan gluckste. Seit seinem ersten Besuch auf dem Frostfeuerkamm, als er die Frostwölfe gebeten hatte, sich der Horde anzuschließen, hatte Gul’dan Orgrim mit Unbehagen erfüllt, und das umso mehr, wenn er lachte.

„Frostwölfe“, sagte der Hexenmeister. „Ihr seid ein pragmatisches Volk. Wir aus dem Süden haben euch dafür stets bewundert …“ Er drehte sich um, um auf seinen Sklaven hinabzublicken und in offenkundiger Zuneigung zu lächeln. Er streckte seine Hand aus, und sowohl seine Augen als auch seine Fingerspitzen loderten hellgrün. Er winkte träge mit der Hand. Ein schmaler, nebelgleicher Tentakel schlängelte sich von Gul’dans grünen Fingerspitzen zu dem Menschen. Die Augen des Menschen weiteten sich vor entsetzter Pein, doch er gab keinen Laut von sich. Stattdessen begann er schwächlich zu zittern und zu würgen und unter Orgrims Blick noch weiter in sich zusammenzusinken. Es war, als würde Gul’dan der Kreatur im wahrsten Sinne des Wortes die Lebensenergie aussaugen.

Und das tut er, dachte Orgrim. Die Geister seien uns gnädig, das tut er. Er ertappte sich dabei, wie er gegen den instinktiven Drang ankämpfen musste, die Flucht zu ergreifen.

Gul’dan ließ die Hand sinken, und der Mensch sackte nach hinten; seine dürre Brust hob und senkte sich hektisch.

„Wenn sich das Portal öffnet“, sagte Gul’dan mit entspannter, beinahe verträumter Stimme, „und sich der Rest der Horde uns anschließt, lassen wir ihnen das Geschenk der Fel-Magie zuteilwerden. Ihnen allen.“

Orgrim ballte die Fäuste. „Dem hat Durotan nicht zugestimmt“, sagte er schnippisch, wütend.

„Und was kümmert es dich, was dieser Verräter denkt?“ Aus Gul’dans Augen strahlte das helle Grün der Fel-Magie. Wie viel von diesem Ding ist überhaupt noch ein Orc?, fragte sich Orgrim mit einem Anflug von Grauen. Als der Hexenmeister sprach, klang seine Stimme schrill, schroff und beißend. „Es ist an der Zeit, dass der Frostwolfclan einen neuen Anführer bekommt. Einen, der nur das Beste für seine Orcs im Sinn hat. Einen …“ Hier legte er unbescheiden die Hand auf seine eigene Brust. „… der Gul’dans Vision zu schätzen weiß. Und seine Macht!“ Seine grünen Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, und wieder streckte er seine Hand zu dem Sklaven aus, um noch einen „Schluck“ von dessen erbärmlicher Lebensenergie zu nehmen.

„Komm“, sagte Gul’dan, als der Mensch, jetzt kaum mehr als ein Skelett, ermattet keuchte. „Ich gewähre dir die Fel-Magie.“

Mein Meister ist finster und gefährlich. Das hatte Garona zu Durotan gesagt, zu den Frostwölfen. Garona, die das Treffen der Menschen mit Durotan in die Wege geleitet hatte. Garona, so grün wie Gul’dan, doch so verschieden von ihm, wie es nur möglich war.

Sie hatte das gesagt, und sie hatte vollkommen recht gehabt. Hatte sie – hatte Durotan – ebenfalls recht damit, sich mit den Menschen gegen ihn zu verbünden?

„Durotan, er …“ Orgrim mühte sich, aufrichtig zu wirken, obgleich sein Herz wie wild pochte. „Er hat die Frostwölfe gegen die Fel-Magie vergiftet. Lass sie mich versammeln. Sie hierher bringen. Schenke mir vor ihrer aller Augen die Fel-Magie, damit sie sehen, um wie viel stärker ich dadurch werde.“

Gul’dans Augen verengten sich zu Schlitzen. Orgrim zwang sich, ruhig zu bleiben und diesen grünen Augen mit Gelassenheit zu begegnen, obgleich er am Rande seines Blickfelds sah, wie der Mensch keuchend nach Atem rang. Der Hexenmeister ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen.