„Wie ich schon sagte“, entgegnete Gul’dan schließlich, „ein pragmatisches Volk. Dann ruf sie her. Dies ist nicht Draenor, Frostwolf. Dies ist der Beginn eines neuen Zeitalters. Des Zeitalters der Horde.“
Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit dem Sklaven zu, und seine Lippen kräuselten sich vor Verachtung, als der Mann flehentlich den Arm nach ihm ausstreckte. „Sei Furcht“, sagte Gul’dan, „oder Futter.“
Gul’dan ballte ruckartig die Hand zur Faust und zog. Das unsichtbare Band zwischen ihnen zerriss. Die Augen des Menschen rollten in ihren Höhlen zurück, und er brach zusammen. Orgrim starrte den Leichnam an, eine pergamentene, verwitterte Hülle. Er neigte sein Haupt und ging. Sobald er sich weit genug von den Fackeln entfernt hatte, lief er los. Er war sich sicher, dass Gul’dan ihm nicht geglaubt hatte. Er hoffte bloß, seinem Clan genügend Zeit verschafft zu haben.
Doch das hatte er nicht.
Heulen und Rufe durchschnitten die Nachtluft, und als er sich dem Frostwolf-Lager näherte, sah Orgrim bereits, wie eine der Hütten in Flammen aufging. „Gul’dan will seine Macht nicht an die Frostwölfe vergeuden!“, hörte er einen großen Kriegshymnenorc verkünden, grün von der Fel-Magie. Das sollten seine letzten Worte in diesem Leben sein. Orgrim überbrückte die Entfernung zwischen ihnen, packte den anderen Orc und donnerte ihm seinen kahlen Schädel wuchtig auf den Kopf. Das Genick des Kriegshymnenorcs brach. Orgrim schleuderte den Toten von sich und hastete weiter.
Durotan, mein alter Freund, vergib mir!
Er eilte zur Hütte des Häuptlings. Als er den Vorhang beiseitezog, wirbelte Draka herum, eine Hand bei ihrem Kind in der Wiege, während sie mit der anderen einen großen, sonderbar aussehenden Dolch umklammert hielt, der Orgrims Kehle mit derselben Leichtigkeit hätte aufschlitzen können, wie er einst den Bauch eines Talbuks geöffnet hatte.
„Ich werde in deinem Blut baden!“, knurrte sie, die Augen hart vor Hass.
„Vielleicht“, pflichtete er ihr traurig bei, „aber nicht jetzt. Ich kann dir nicht viel Zeit verschaffen, aber zumindest einen Vorsprung.“ Er schickte sich an, die Zeltklappe zu schließen. In dem Moment, als er sich wieder zu ihr umwandte, war sie bereits bei ihm und hielt ihm das Messer an den Hals. Er wusste, wie sehr es sie danach verlangte, seine Schlagader zu durchtrennen. Er sah es in ihren Augen, spürte es im leichten Zittern des Metalls an seinem Fleisch. Und sie tat recht daran, das zu wollen.
„Warum sollte ich dir trauen?“, fauchte sie ihn an. „Du hast uns alle verraten!“
Orgrim wies auf das Baby. „Erinnerst du dich, was ich zu dir sagte, bevor wir aufbrachen, um uns der Horde anzuschließen? Ich habe geschworen, dass ich niemals zulassen werde, dass dir oder deinem Baby ein Leid geschieht – nicht, wenn ich es verhindern kann. Ich kann das, was ich angerichtet habe, nicht ungeschehen machen, aber zumindest dieses Versprechen will ich halten. Um deines Sohnes willen, Draka! Geht! Sofort!“
Draka sah ihn an, während sie auf den Lärm von Mord und Chaos draußen vor dem Zelt lauschte. Schließlich ließ sie die Klinge sinken, ihre Miene so kalt wie der Winter auf dem Frostfeuerkamm – jedoch nicht, ohne einen kleinen, blutigen Schnitt an seinem Hals zu hinterlassen. Frustriert wirbelte sie herum und richtete ihren Zorn auf die Rückseite des Zelts, um rasch eine Öffnung in die Plane zu schlitzen.
Ihr und Durotans Kind in seiner Wiege haltend, drehte sie sich noch einmal um und bedachte ihn mit einem letzten, verächtlichen Blick. „Du hättest auf deinen Häuptling vertrauen sollen, Orgrim Schicksalshammer.“ Krank vor Scham stellte Orgrim fest, dass er es nicht ertragen konnte, sie anzusehen, als sie in die Dunkelheit hinausschlüpfte; stattdessen drehte er sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand zum Zelt kam.
Sobald er hörte, wie sie sich davonstahl, ging er zu dem Spalt hinüber, den sie in die Zeltplane geschnitten hatte, und schaute hinaus, um zu sehen, wie sie auf die Bäume und – so die Geister wollten – auf die Sicherheit zurannte. Dann erhaschte er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung: Einer der Orcs vom Clan des blutenden Auges stürmte in das Zelt, seinen Blick auf die fliehende Draka gerichtet. Wie beiläufig schwang Orgrim den Schicksalshammer und zertrümmerte dem anderen den Schädel. Als er von dem Leichnam aufblickte, war weder von Draka noch von anderen Verfolgern noch irgendetwas zu sehen.
Jetzt wurde es Zeit, zu schauen, ob es noch andere Frostwölfe gab, denen er helfen konnte, bevor es zu spät war. Und danach würde er für Durotan tun, was immer er konnte.
Khadgar war bereits vom Rücken des Greifs gesprungen, als er sich noch im Anflug befand, um auf den Stufen zu landen, die zur Kammer der Luft emporführten, die er jetzt hinauflief. Er kannte diesen Raum nur zu gut. Genau hier hatte er als Junge von elf Jahren gestanden, während dieselben Magier, die jetzt auf der ringförmigen Plattform thronten, ihn auf die Probe stellten und für würdig befanden. Hier hatte silbrig weiße Magie ihm das Auge in den Arm gebrannt, das jetzt, da er an diesen Ort zurückkehrte – was er niemals für möglich gehalten hätte –, verhalten kribbelte.
„Khadgar!“, rief einer der Magier. „Wie kannst du es wagen, hierher zurückzukommen?“
„Hinaus mit dir!“, brüllte ein anderer.
Khadgar wandte sich dem schmächtigen, ältlichen Erzmagier Antonidas zu und hielt den Atem an, als der Rat der Sechs düster auf ihn herabblickte, allesamt in die violetten, kunstvoll mit dem Auge der Kirin Tor bestickten Roben ihres Zirkels gewandet. „Ich komme her, weil ich Eure Weisheit suche“, erklärte er.
Antonidas’ düstere Miene verfinsterte sich noch mehr. „Du hast hier nichts mehr verloren.“
„Medivh, der Wächter, ist unpässlich.“
Gemurmel erhob sich, als die Sechs Blicke tauschten, die von entsetzt über zornig bis hin zu besorgt reichten. Antonidas wirkte vollkommen fassungslos. „Was?“
Der junge Magier atmete tief durch. „Er wurde mit Fel-Magie vergiftet.“
Schweigen. Antonidas trat an den Rand der Plattform. Er sah aus, als wollte er Blitze auf Khadgar niederregnen lassen, würde jedoch davor zurückschrecken, die kostbaren Intarsien des Fußbodens zu beschädigen. „Lächerlich“, knurrte der Erzmagier.
Erzmagierin Shendra, die nie viel für Khadgar übrig gehabt hatte, trat vor. „Du warst derjenige, Khadgar, der schwach war!“ Sie versuchte nicht einmal, ihren Hass zu verbergen, als sie einen knochigen Zeigefinger in seine Richtung stieß. „Du warst es, der den Drang verspürte, diese verkommene Magie zu studieren, die die Kirin Tor so ausdrücklich verbannt haben!“
Jetzt war keine Zeit für Belehrungen, keine Zeit für Zurechtweisungen oder um darüber zu streiten, wer recht und wer unrecht hatte; alles, was zählte, war Medivhs gegenwärtiger, besorgniserregender Zustand. Khadgar war nicht mehr der Junge, der Dalaran erst vor einigen wenigen Monaten den Rücken gekehrt hatte. Er nahm an, dass er in den vergangenen Tagen mehr Grauen gesehen hatte als diese alten Magier in ihrem ganzen Leben. Er ging nicht auf Shendras Anschuldigungen ein; stattdessen hielt er seinen Blick auf Antonidas gerichtet. „Was wisst Ihr über das Dunkle Portal?“, forschte er.
„Du bist zurückgekehrt“, knurrte Antonidas, „und erhebst Vorwürfe gegen den Wächter …“
Khadgar hielt die Zeichnung in die Höhe, die er auch Lothar gezeigt hatte – die vom Großen Tor und der geheimnisvollen Gestalt, die die Horde nach Azeroth einlud.
„Wer“, sagte er, „ist Alodi?“
Die Kammer versank in Schweigen. Antonidas schaute verblüfft drein, während die anderen entgeistert raunten: „Wer ist er, diesen Namen in den Mund zu nehmen?“
„Woher weiß er davon?“
Sie brachten ihn ins Innerste der Violetten Zitadelle. Zwar wusste Khadgar, dass die Zitadelle eine Kerkerebene besaß, doch er war noch niemals zuvor dort gewesen. Das schien nicht nötig zu sein, schließlich sollte er der künftige Wächter von Azeroth werden, während sich die Erzmagier um Dalaran kümmerten. Mit unverhohlenem Erstaunen musterte er die unzähligen magischen Zellen, bis zu guter Letzt die Tür zu einer einzelnen großen Kammer geöffnet wurde, und seine Augen weiteten sich, als man ihn hineinführte.