Das Geräusch der murmelnden Stimmen wirkte sonderbar beruhigend, als Khadgar zu begreifen versuchte, was sich seinen Blicken darbot. Da waren vier Magier, von denen jeder in einer anderen Himmelsrichtung stand. Ihre Körper waren starr und steif und verharrten in beinahe unnatürlicher Reglosigkeit. Ihre Augen waren geschlossen. Das Einzige an ihnen, das sich bewegte, waren ihre Münder, während eine monotone Beschwörung von ihren Lippen floss. Vor ihnen hingen bedächtig auf und ab wogende lila Siegel in der Luft, von denen ein steter Strom magentafarbener Magie ausstrahlte.
In der Mitte der Zelle, umgeben von den Magiern und den Siegeln, befand sich ein gewaltiger schwarzer Würfel, der etwa einen Meter über dem Boden schwebte. Die tintige Oberfläche kräuselte sich wie die Wellen eines unruhigen Gewässers, als bestünde der Würfel aus einer sehr zähen, teerartigen Flüssigkeit. Dort, wo die Zauber den Würfel berührten, offenbarten sie Wirbel und Symbole auf der Oberfläche, die zu keiner Sprache gehörten, die Khadgar kannte.
Antonidas sagte nur: „Alodi.“
Das war ausgesprochen wenig hilfreich. „Was ist das?“
Ohne seinen Blick auch nur für eine Sekunde von dem Gebilde abzuwenden, erklärte Antonidas: „Eine Wesenheit aus einer Zeit, bevor es die Kirin Tor überhaupt gab. Wir denken, dass er einst eine ähnliche Aufgabe hatte wie heute der Wächter.“
Frag Alodi. „Ein Beschützer …“, flüsterte Khadgar, die Augen auf die träge wogende Oberfläche des Würfels gerichtet.
Antonidas wandte sich direkt an ihn. „Niemand außerhalb des Rates weiß um seine Existenz … und so wird es auch bleiben!“ Khadgar zögerte einen Moment, ehe er zustimmend nickte.
Der Erzmagier blickte finster drein, wirkte dabei jedoch eher verloren als wütend. Schließlich sagte er: „Dass du Alodi im selben Atemzug erwähnst wie das Dunkle Portal, ist zu viel, um bloßer …“
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerkamkeit. Eine Flüssigkeit – ein Riss? Eine Linie? Khadgar wusste nicht recht, wie er es nennen sollte – begann sich senkrecht ihren Weg an jener Seite des Würfels emporzubahnen, die ihnen zugewandt war. Ein halbkreisförmiges Segment schimmerte auf, und Khadgar erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Spiegelbild und das von Antonidas. Dann verschwanden ihre Abbilder einfach, um eine offene Fläche zurückzulassen, fast wie eine Tür. Noch mehr glatte Schwärze ergoss sich aus der neu entstandenen Öffnung und bildete wogende Stufen, die ins dunkle Innere führten.
„… Zufall zu sein“, brachte Antonidas den Satz ermattet zu Ende.
Khadgars Mund war wie ausgedörrt. „Soll … soll ich hineingehen?“, brachte er mit leicht brüchiger Stimme hervor.
„Ich weiß es nicht.“ Antonidas starrte ihn mit unverhohlenem Erstaunen an. „Das hat der Würfel noch nie zuvor getan.“
Frag Alodi.
Also, dachte Khadgar grimmig, dies ist meine Chance. Und langsam, mit weichen Knien und wild klopfendem Herzen, trat er vor, erklomm die gelinde vibrierenden Stufen und stieg ins Herz des Wesens hinauf, das Alodi genannt wurde.
17
Der Würfel war innen ebenso schwarz wie außen. Khadgar stieg nach oben, hielt vor der letzten Stufe kurz inne und trat dann vor. Sofort schloss sich die Wand hinter ihm, und die Wand vor ihm strahlte in mehreren Schlitzen Helligkeit ab. Er spürte, wie sich der Untergrund, auf dem er stand, kräuselte. Es war still – eine Stille, so vollkommen, wie Khadgar sie noch nie erlebt hatte.
„Alodi?“, fragte er. Seine Stimme klang laut und seltsam flach. Kein Nachklang, kein Echo; sie wurde einfach verschluckt, als hätte er nichts gesagt. Als hätte er nie gesprochen.
Erneut wurde die Stille durchbrochen – aber diesmal nicht von ihm. „Uns bleibt nicht viel Zeit, Khadgar“, sagte die Stimme – heiser, warm, weiblich. Er keuchte, als vor ihm ein Klumpen erschien. „Ich musste den letzten Rest unserer Macht aufwenden, um dich zu uns zu führen.“ Der Klumpen verformte sich, wuchs in die Länge, bis er einer aufrecht stehenden Person ähnelte, aber er war noch immer von der schwarzen, glatten Substanz bedeckt, aus der auch der Rest des Würfels bestand. Während Khadgar den Umriss weiter fasziniert anstarrte, traten Details an seiner Form zutage. Das schwarze Material begann nach Kleidung auszusehen, die Gestalt nahm konkrete Züge an, Feinheiten wurden sichtbar.
Khadgar sog den Atem ein.
„Ich kenne dich! Die Bibliothek …“
Der mysteriöse Umriss, der ihm das Buch gezeigt hatte und dann verschwunden war. Das Buch, auf dessen Seiten die Worte „Frag Alodi“ gekritzelt waren.
„Alles ist in Gefahr“, fuhr Alodi fort. „Wir zählen auf dich. Der Wächter hat uns verraten“, sagte sie traurig.
Khadgar dachte an das grüne Flackern in Medivhs Augen, den Grund für seine Reise zu den Kirin Tor. Er hatte gehofft, dass es nur ein Irrtum war. „Ich sah die Fel-Magie in seinen Augen“, beichtete er Alodi.
„Sie hat ihn verzehrt“, erklärte sie. „Falls niemand ihn aufhält … wird diese Welt brennen.“
Khadgar schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. „Aber er … Wie konnte das passieren?“ Wie konnte die Person, die das Wohl einer ganzen Welt sichern sollte, ihren Untergang wollen? Welcher Verlockung war er erlegen, dass er seine Aufgabe so mit Füßen trat?
Unter ihrer Kapuze hervor musterte Alodi ihn mit großem Mitgefühl. Der Grund, den sie schließlich nannte, schockierte Khadgar.
„Er war einsam.“ Das war alles.
Er starrte sie an. Konnte etwas so Simples wirklich etwas so Mächtiges verdrängen?
„Wie alle Wächter vor ihm wurde Medivh von den Kirin Tor allein mit dem Schutz dieser Welt betraut. Sein Herz“, führte sie grimmig aus, „war rein. Er widmete sich seiner Aufgabe so hingebungsvoll, dass er alle Formen der Magie finden und meistern wollte.“
Die Seele des jungen Magiers wand sich, während er ihren Worten lauschte. Er wollte es nicht hören. Er wollte es nicht wissen. Aber es war notwendig.
„Während dieser Suche stieß er in den Weiten der Leere auf etwas Bösartiges. Etwas von schrecklicher Macht …“
Alodi bewegte die Hand, und die schwarzen Wände des Würfels verschwanden. Mit einem Mal schwebte Khadgar im leeren Raum, und Farben, Formen und Umrisse wirbelten um ihn herum. Einige davon konnte er erkennen und benennen: Meere, Sterne, Purpur, Blau. Andere waren so fremdartig, dass sie sich jedem Verständnis entzogen. Und im Zentrum dieses herrlichen, wogenden, wunderschönen Chaos stand der Wächter von Azeroth.
Sein Gesicht war jung, und es strahlte vor Freude über das, was sich ihm darbot. Scharfsinnige Intelligenz schimmerte aus seinen blaugrünen Augen, und die kleinen Falten um seine Augenwinkel und seinen leicht geöffneten Mund kündeten von Güte und einer gutmütigen Verschmitztheit. Dies war Medivh, wie Llane und Taria und Lothar ihn gekannt hatten. In diesem Moment begriff Khadgar, warum sie so loyal zu ihm standen. Er verkörperte alles, was ein Wächter sein sollte.
Doch dann befleckte plötzlich ein bekannter Farbhauch diese Szene, ein Makel auf dem himmlischen Bild eines Wächters bei der Arbeit. Bösartige, grün glühende Ranken breiteten sich aus wie Blut, das in eine Schale mit Wasser tropft. Immer mehr Farben fielen diesem Grün zum Opfer, und was einst wunderschön gewesen war, wurde abstoßend und deformiert. Medivh schloss mit verzerrtem Gesicht die Augen, und als er sie wieder öffnete, glühten sie ebenso grün wie der Nebel, der aus der Kehle des toten Mannes geströmt war.
Khadgar hatte Alodi völlig vergessen, und ihre Stimme war eine willkommene Erinnerung, dass alles, was er sah, bereits in der Vergangenheit lag. „Die Fel-Magie“, sagte sie.