Er machte einen tiefen, zittrigen Atemzug. „Seine Absichten waren hehr, aber sie verschlang ihn und verzerrte seine Seele. Sie verwandelte seine Liebe für Azeroth in den unstillbaren Wunsch, die Fel-Magie zu verbreiten.“ Alodi hielt kurz inne. „Du musst dich ihm stellen, Khadgar.“
Das Blut wich aus seinen Wangen. „Ich … ich bin nicht mächtig genug, um einen Wächter zu besiegen!“
Sie lächelte. „Wächter – das ist nur ein Titel. Die wahren Wächter dieser Welt sind ihre Bewohner selbst. Ich weiß, dass du siehst, was sich den Kirin Tor entzieht – darum hast du dich von ihnen abgewandt. Niemand kann allein gegen die Dunkelheit bestehen.“
Sie hatte recht. Er hatte stets geglaubt, dass der Wächter nicht allein seiner Aufgabe nachgehen sollte, dass es falsch war, die ganze Last auf ein einzelnes Paar Schultern zu laden. Er fand, dass die Kirin Tor sich mehr um die Leute kümmern sollten, mit denen sie diese Welt teilten, anstatt sich von ihnen abzuschotten. Dennoch …
„Ich verstehe nicht, was du von mir willst.“
Alodi machte einen Schritt nach vorne, und die seltsamen Umrisse, die die Form ihres Körpers nachzeichneten, flossen um sie herum, als sie ihm den Kopf zuwandte. Zum ersten Mal konnte er nun wirklich ihr Gesicht sehen, und er keuchte leise. Die unverkennbaren Spinnennetzspuren von Fel-Magie umgaben ihre Züge, doch sie waren nicht grün und unheilvoll. Vielmehr waren es Narben; Spuren von etwas, das es nicht mehr gab, Male einer verheilten Wunde.
„Doch“, sagte sie. „Du verstehst.“
Und es stimmte. Er hatte nicht so gelitten wie Medivh. Er war nicht allein. Medivh hatte einst Freunde gehabt, Llane und Lothar, aber er war gezwungen gewesen, Distanz zu ihnen zu suchen. Seine Aufgabe – anderen fernzubleiben, um sie zu beschützen – hatte ihn verwundbar gemacht. Khadgar hatte diese Schwäche nicht.
„Lothar“, hauchte er. „Lothar wird mir helfen.“
Alodis magievernarbtes Gesicht lächelte, zufrieden darüber, dass er begriffen hatte. Gleichzeitig begann ihre Gestalt jedoch zu zerschmelzen. Ihre Stimme erreichte ihn nur noch als Wispern.
„Vertraue auf deine Freunde, Khadgar. Gemeinsam könnt ihr diese Welt retten. Vergiss nie – aus dem Licht erwächst Dunkelheit, und aus der Dunkelheit … Licht!“
Moroes eilte zu der erschlafft daliegenden, keuchenden Gestalt seines Meisters. Rasch zog er Medivh in die Höhe und führte ihn zum Becken. Wo war das Mädchen? Er hatte sie doch gebeten, bei dem Wächter zu bleiben! Da fielen seine Augen auf die Runen, die sein Meister auf den Boden geschmiert hatte, und alles wurde klar.
Moroes erbleichte, während er, seinen Meister stützend, auf das Becken zustolperte.
Medivh bewegte sich, als wäre er betrunken. Er trat vorsichtig vor, auf das Zentrum des Beckens zu, wo die weißen Energien Körper und Geist des Wächters durchströmten, seinen Schmerz linderten, die Berührung des Dämonischen von ihm wegstrichen. Sein Blick klärte sich, und er versuchte tapfer, zu lächeln.
„Danke, Moroes“, sagte er, seine Stimme so schwach, dass sein Diener einen Stich in seinem Herzen spürte.
„Ihr werdet euch schon wieder erholen, Wächter“, erklärte er mit einer Zuversicht, die er nicht wirklich empfand. „So, wie Ihr es immer tut.“
Medivh winkte mit einer viel zu dürren Hand ab. „Nein“, entgegnete er. „Für Garona. Danke, dass ich Zeit mit meiner Tochter verbringen durfte.“
Moroes’ grimmige Miene wurde weicher. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann erstarrte er. Ein dünner grüner Wirbel trübte das Weiß des Beckens. Er blinzelte und hoffte wider alle Vernunft, dass er es sich nur einbildete, aber das widerliche glühende Grün blutete weiter in das Becken.
„Es tut mir leid, alter Freund. Es scheint, als hätte ich die Orcs in diese Welt geführt.“
Moroes schüttelte ungläubig den Kopf. Medivh hatte sich so lange gequält. Er durfte nicht versagen, nicht jetzt, wo …
„Die Fel-Magie … sie hat mich verändert. Ich … ich weiß nicht, was ich sonst noch getan habe.“ Seine Stimme wurde brüchig. „Ich kann mich einfach nicht erinnern.“ Moroes brach das Herz. Er ging um das runde Becken herum, beobachtete, wie die weiße Magie gegen das Grün ankämpfte und sich ihm dann geschlagen gab. „Alles, was ich beschützen wollte, habe ich zerstört.“ Gebrochen drehte Medivh sich auf die Seite. Sein Kopf hing ihm auf die Brust.
„Ich kann die Fel-Magie nicht kontrollieren. Niemand kann es.“
Abrupt sprang der Wächter auf die Füße, sein Körper mit einem Mal wiedererstarkt. Das grüne Licht der beschmutzten Magie hüllte ihn ein, aber seine Augen – das Weiße, die Iris – waren schwarz wie Teer. Moroes wich vor ihm zurück. Er wollte seinem geliebten Meister zurufen, dass er dagegen ankämpfen, es zurückdrängen sollte, so wie schon zuvor. Doch in diesem Gesicht war keine Spur mehr von dem Wächter zu sehen, dem er so lange gedient hatte; keine Spur von Freundschaft oder Zuversicht, kein Schmerz angesichts des Leides anderer, keine Liebe für die junge Frau, die …
Alles war fort. Einfach alles. Moroes – der so unglaublich alt war und so vielen Wächtern von Azeroth zur Seite gestanden hatte – hatte nur noch Zeit für einen Gedanken, als die dämonische Gestalt ihm das Leben auszusaugen begann: Er wünschte sich, dass er früher gestorben wäre und diesen Moment nie hätte erleben müssen.
Llane hatte sich um Lothar gesorgt. Sein Freund hatte mit ansehen müssen, wie sein Sohn direkt vor seinen Augen gestorben war, und er hatte nichts dagegen tun können. Llane wusste, hätte er seinen eigenen Jungen, Varian, verloren, wäre etwas in ihm unwiederbringlich zerbrochen. Darum hatte er nichts gesagt, als Lothar davongegangen war, nur mit der Erklärung, dass er „nach Goldhain“ wolle. Wie oft waren er, Llane und Medivh im Lauf der Jahre dort gewesen? Nur hatten sie damals getrunken und gefeiert und auf die Freuden des Lebens angestoßen und nicht ihren Kummer ertränkt. Doch trotz alledem ehrte Lothar seine Pflicht dem Mann gegenüber, den er Freund und König nannte. Als Llane an diesem Morgen Karos losgeschickt hatte, um ihn aus dem Gasthaus zu holen, war sein alter Freund postwendend zurückgekehrt. Wie Karos berichtet hatte, war Garona bei dem Hauptmann gewesen, und Llane konnte nur vermuten, dass Medivh die Anziehung zwischen den beiden erkannt und dafür gesorgt hatte, dass sie zusammenkamen. Llane vertraute Garona. Er war überzeugt, dass Durotan nicht für den Hinterhalt verantwortlich war, und falls sie und Anduin einander trösten konnten, würde er ganz sicher nicht über sie urteilen – zumindest, solange der Hauptmann weiter seinen Pflichten nachkam. Lothar schien mehr als fähig dazu, aber da war nun eine Härte in ihm, die früher noch nicht da gewesen war. Eine Sturheit und Entschlossenheit, und genau deswegen diskutierten sie nun schon seit einer Stunde über ihre Strategie. Llane war erschöpft. Nach seiner Rückkehr hatte er sich lediglich den Schweiß und das Blut der Schlacht vom Körper gewaschen, seine Frau und seinen Sohn geküsst und ein wenig Schlaf nachgeholt, bevor er sich in den Kartenraum zurückgezogen hatte, um über ihrem Problem zu brüten, Stunden vor Lothars Ankunft.
Gefühlt – und vielleicht auch wirklich – zum zehntausendsten Mal blickten Llane, Varis und eine Handvoll anderer nun aus blutunterlaufenen Augen auf das Modell von Sturmwind hinab. „Fünf Legionen, um den Gebirgspass der Totenwinde zu blockieren“, sagte er und schob einen Stein in Position. „Zehn weitere hier, hier und hier, entlang des Rotkammgebirges. Die Vorratsrouten sind hier. Im Süden und Osten sollten das Meer sie zurückhalten.“ Er blickte zu Lothar auf. „Falls wir diese Positionen halten, haben wir die besten Chancen.“
„Wir dämmen sie also ein“, brummte Lothar.
Er seufzte und rieb sich die Augen. „Bis wir eine bessere Option haben, ja.“
„Und wenn es dann bereits zehnmal so viele gibt?“, entgegnete Lothar. „Was dann?“
Llane blickte auf den Tisch hinab. „Falls es eine einfache Lösung gäbe …“, begann er, aber sein Freund schnitt ihm das Wort ab.