„Wir müssen verhindern, dass dieses Tor sich öffnet. Das muss unsere oberste Priorität sein. Falls wir damit scheitern, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor sie uns durch ihre schiere Zahl überwältigen.“
Angespannt erwiderte Llane: „Was schlägst du vor?“
Lothar beugte sich über den Tisch, sein Gesicht dicht vor Wrynns. „Schickt alles, was wir haben. Zerstört das Tor, befreit unser Volk und beendet die unmittelbare Bedrohung.“
„Und was ist mit den Orcs, die hier zurückbleiben?“
„Um die kümmern wir uns später.“
Das reichte nicht. „Nachdem sie das gesamte Königreich verwüstet haben?“, blaffte Llane.
Ein schneidendes Geräusch erklang, ein Blitz weißblauen Lichts leuchtete auf, und der Wächter von Azeroth erschien am Ende des Tisches. „Meine Herren.“
Erleichterung ließ Llanes Herz höherschlagen. Medivh sah so gut aus wie seit seiner Rückkehr nach einer sechsjährigen Abwesenheit nicht mehr. Er hatte eine gesunde Hautfarbe, sein Gesicht wirkte weniger kantig, und sein Körper war hoch aufgerichtet.
Ein Grinsen legte sich auf Llanes Züge. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er es nicht unterdrücken können „Medivh!“, rief er aus. „Du bist wohlauf!“
„So ist es“, versicherte ihm sein alter Freund. „Ich fühle mich wie neugeboren.“
„Wir brauchen dich.“ Er deutete auf die Karte. „Wir zerbrechen uns die ganze Zeit schon den Kopf über unsere Optionen.“ Mit einem Blick auf Lothar fügte er hinzu: „Einige von uns glauben bereits, dass es keine Optionen gibt. Wir brauchen einen neuen Blickwinkel.“
„Ich kann nicht nur einen neuen Blickwinkel bieten, sondern auch neue Hoffnung“, erklärte Medivh. „Ich habe mich mit Durotan getroffen.“
„Mit Durotan?“, wiederholte Lothar. Klang da wirklich Skepsis in seiner Stimme mit? Beunruhigt drehte Llane den Kopf. Sein alter Freund spielte mit einer der Figuren auf der Karte.
„Er ist noch am Leben?“, fragte Lothar ungläubig.
Medivh blickte ihn an. „In der Tat. Er hat mir versichert, dass die Rebellion gegen Gul’dan an Stärke gewinnt. Mit der Hilfe der Frostwölfe und ihrer Verbündeten können wir das Tor zerstören.“
Medivh hatte stets einen Hang zur Dramatik gehabt. Es sah ihm ähnlich, im letzten Moment aufzutauchen und die Situation zu retten, so, wie er es jetzt tat. Llane spürte, wie die Hoffnung in ihm höher wuchs.
„Das ändert nichts an meinem Vorhaben“, erklärte Lothar rundheraus.
„Welches Vorhaben?“, erkundigte sich der Wächter.
„Anduin glaubt, wir sollten mit unserer gesamten Streitmacht angreifen“, weihte Llane ihn ein. „Ich habe aber Bedenken, dass der Rest unseres Königreichs dadurch ungeschützt bleibt. Ich stimme ihm zu, dass wir den Zustrom weiterer Verstärkung verhindern und die Gefangenen retten müssen. Aber die Orcs haben bereits demonstriert, dass sie gewaltigen Schaden anrichten können und dass sie nicht zögern werden, Leben zu nehmen.“
Medivh nickte nachdenklich. „Wie viele Legionen würdet Ihr brauchen, um die Orcs zurückzuhalten und das Königreich zu verteidigen?“
Llane warf Lothar einen ungehaltenen Blick zu und beantwortete die Frage. „Insgesamt fünfundzwanzig. Fünf, um den Pass zu halten, zehn am Rotkammgebirge und zehn zum Schutz der Stadt.“
„Wir haben bereits achtzehn Legionen verloren. Das heißt, uns bleiben nur noch eins … zwei … drei.“ Lothar hob die Figur auf, zog die Metallstandarten heraus, die in ihrem Rücken steckten und warf sie eine nach der anderen auf den Tisch, während er sie abzählte.
Llane ignorierte ihn. „Ist es machbar, Medivh?“
Lothar ließ die Figur auf die Karte fallen. „Nein, es ist nicht machbar!“
Es folgte eine unbehagliche Pause. „Mit drei Legionen, den Frostwölfen und meiner Macht“, begann der Wächter, „könnten wir …“
Lothar blickte seinen alten Freund aus brennenden Augen an. „Bei allem Respekt, Wächter“, sagte er angespannt, „es hat sich erst vor Kurzem gezeigt, dass deine Macht bestenfalls unzuverlässig ist.“ Er wandte sich wieder an den König. „Ich kann nicht mit drei Legionen gegen die Horde marschieren und darauf warten, dass er uns magisch den Arsch rettet!“
Medivh ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den König. „Llane, habe ich Euch je im Stich gelassen?“
„Ihn im Stich gelassen? Wo warst du die letzten sechs Jahre?“, grollte Lothar.
Llane war hin- und hergerissen. Es stimmte, was Lothar sagte. Sie hatten sich nicht auf Medivh verlassen können. Aber jetzt sah er so viel gesünder aus. So viel stärker, so wie früher. Was immer an ihm gezehrt hatte, er hatte sich darum gekümmert. Und sie durften auch nicht vergessen, dass der Wächter ihnen „magisch den Arsch gerettet“ hatte, als die Trolle drauf und dran gewesen waren, das Königreich zu überrennen. Medivh hatte sich ihres Vertrauens in der Vergangenheit als würdig erwiesen, und trotz seines erschöpften Zustands hatte er ihnen sogar erst kürzlich beigestanden.
„Bitte, Anduin“, begann er, „er ist der Wächter …“
Doch Anduin Lothar ließ ihn nicht aussprechen. „Aber nicht der Wächter aus Euren Erinnerungen! Er hat die Kontrolle verloren! Er ist labil! Und er wird nicht da sein, wenn wir ihn wirklich brauchen.“
Llane presste die Lippen fest zusammen. Er benötigte einen Hauptmann, auf den er sich verlassen konnte, jetzt dringender denn je. Rasch trat er an Lothars Seite. „Reiß dich zusammen, Anduin.“ Seine Stimme war fest und beherrscht, aber sie duldete keinen Widerspruch.
Lothars Augen waren wild, verzweifelt, aber auch voller Sorge. „Ich würde für Euch in die Hölle marschieren, Llane, falls Ihr glaubtet, dass es auch nur die geringste Chance auf Erfolg gibt! Das wisst ihr! Aber das hier … ist Selbstmord!“
„Geht es hier um Callan?“ Medivhs Stimme war ruhig, und ein Hauch von Bedauern schwang darin mit. Lothars Miene erstarrte, und sein Körper versteifte sich. Langsam drehte er sich zu dem Wächter um.
„Es war eine Tragödie.“
Lothars Gesicht wurde aschgrau, dann flutete Zornesröte in seine Wangen. „Wag. Es. Nicht!“
Es musste für beide ein schrecklicher Moment sein, dachte Llane. Medivh war ganz offensichtlich krank gewesen, und sein Versuch, die Kämpfenden durch Blitze zu trennen, hatte viele Leben gerettet und ihm beinahe das eigene gekostet. Es war in der Tat tragisch gewesen, dass Callan sich auf der falschen Seite dieser Barriere wiedergefunden hatte. Gleichsam erkannte er, dass Lothars Reaktion nur verständlich war. Vielleicht gab er ihm sogar die volle Schuld an Callans Tod. Doch dafür hatten sie jetzt keine Zeit. Sie hatten kaum noch Zeit für irgendetwas.
„Wäre er nicht so darauf versessen gewesen, uns zu beeindrucken, könnte er heute noch bei uns sein“, sagte Medivh. Lothar bebte am ganzen Körper. Schweiß perlte auf seiner Stirn.
„Medivh …“, begann Llane.
„Callan war nicht bereit. Du wusstest es, und du hast ihn trotzdem Soldat spielen lassen.“
Die Worte waren harsch, und Llane öffnete den Mund, um den Wächter zurechtzuweisen und eine Entschuldigung von ihm zu verlangen, damit sie sich endlich auf die aktuelle Lage konzentrieren konnten, doch es war zu spät.
Lothar explodierte förmlich. Er brüllte seinen Zorn hinaus und stürzte sich auf Medivh. Llane, Karos und die anderen sprangen vor, um die beiden auseinanderzuziehen. Der Wächter trat zurück, die Arme erhoben, während defensive Magie in seinen Handflächen knisterte, aber er beherrschte sich – im Gegensatz zu Lothar – und entfesselte seine Zauber nicht.
„Aufhören!“, rief Llane, so laut er nur konnte. „Anduin …“
„Du hast ihn umgebracht!“ Fünf Männer hielten den Löwen von Azeroth zurück, und selbst sie hatten ihre liebe Not, Lothar zu bändigen, während er sich gegen sie stemmte. Er und Medivh starrten einander weiterhin an, aber während Lothar beinahe schon tollwütig um sich schlug, blieb der Wächter ruhig und gefasst. „Du willst mein Freund sein?“, knurrte Anduin. „Mein guter, alter Freund …“