„In Sicherheit. Sie und das Kind. Aber die anderen … die meisten von ihnen …“ Sein Schmerz und sein Bedauern waren Orgrim deutlich am Gesicht abzulesen, und im grauen Licht des Morgengrauens sah Durotan Tränen in seinen Augen.
Doch es war zu spät für Tränen. Zu spät für Entschuldigungen, für Bedauern, für Vergebung. Qual, Trauer und Zorn brodelten in ihm, aber er drängte sie eisern zurück. Er konnte sich keine Gefühle leisten. Nur so konnte er lange genug überleben, um zu tun, was getan werden musste. Er wandte sich von Orgrim, dem Betrüger, ab, doch die Stimme seines alten Freundes rief ihm nach.
„Sie würden ihm nicht folgen, wenn sie wüssten, was aus ihm geworden ist.“
„Dann werde ich es ihnen zeigen.“
Gul’dans Orcs hatten das Lager der Frostwölfe in Brand gesteckt, um alles auszulöschen, was von ihrer Kultur noch übrig war. Das meiste war längst zu Asche verbrannt, aber hie und da loderten noch immer Flammen in die Nacht. Ihr grausiger Schein enthüllte gnadenlos die Überreste, und die Mauer, die Durotan um sein Herz erbaut hatte, drohte einzustürzen. Er musste sich zwingen, weiterzugehen, nachzusehen, was Gul’dan seinem Volk als Rache für seine Taten angetan hatte.
Er entdeckte weit weniger Leichen, als er erwartet hatte, aber er wollte sich nicht der Hoffnung hingeben, dass seinen Leuten unversehrt die Flucht gelungen war. Nein, vermutlich hatte Gul’dan sie am Leben gelassen, um sie als Nahrung für die Fel-Magie zu benutzen. Die Leichen, auf die er stieß, lagen, wo sie gefallen waren – die ultimative Respektlosigkeit. Einige von ihnen waren von den Flammen verkohlt. Er sah Kagra, Zarka, Dekgrul … sogar Shaksa und ihre Geschwister, die überschwängliche Nizka und den kleinen Kelgur.
Durotan hatte seine Wahl getroffen, um ihnen zu helfen und nicht nur ihnen, sondern allen Orcs. Dieser ganzen Welt. Er wusste tief in seinem Herzen, dass Gul’dans Todesmagie Draenor zerstört hatte, dass sie früher oder später auch dieses Azeroth vernichten würde. Und mit ihm das Volk der Orcs.
Doch er hatte nicht damit gerechnet, wie hoch der Preis für seine Entscheidung ausfallen würde. Nie hätte er geglaubt, dass Gul’dan einen ganzen Clan auslöschen würde, einschließlich seiner Kinder.
Da waren auch kurze Anflüge von Dankbarkeit. Zumindest hatte Orgrim nicht gelogen, was Draka und den kleinen Go’el anging. All ihr Essen, ihre Kleidung, ihre sonstigen Habseligkeiten und ihre Waffen – einschließlich Donnerschlag und Spalter – waren mitgenommen und an loyalere Orcs verteilt worden, aber es lagen keine verstümmelten Leichen auf der nackten Erde. Ebenso wenig entdeckte Durotan den alten, blinden Drek’Thar oder dessen Gehilfen Palkar – oder ihre rituellen Gegenstände. Waren sie fortgebracht worden, um die Fel-Magie zu nähren, oder war ihnen die Flucht gelungen?
Seine Augen fielen auf ein Frostwolfbanner. Es hatte das Feuer überlebt, auch wenn es an den Rändern versengt war. Ein blutiger Handabdruck war darauf zu erkennen. Jemand hatte versucht, es zu retten.
Die Mauern in seinem Inneren zerbröckelten, doch es war nicht Trauer, die sie niederriss. Es war Zorn. Durotan griff nach dem Banner und presste es fest an seine Brust, während rot glühender Hass entfesselt durch seinen Körper brandete.
Er hatte alles verloren. Aber er würde nicht aufgeben.
Sie würden ihm nicht folgen, wenn sie wüssten, was aus ihm geworden ist.
Dann werde ich es ihnen zeigen.
Hoffnung, dachte Llane, als er durch die laternenerhellten Straßen von Sturmwind ritt, war womöglich die stärkste Waffe von allen. Und bisweilen war sie auch die einzige Waffe. Er hatte befürchtet, dass es in ihrem Fall so sein könnte, doch Medivh war zurückgekehrt. Lothar mochte … zumindest zeitweise … von seiner Trauer überwältigt worden sein, aber er selbst hatte wieder Hoffnung, und dieselbe Hoffnung sah er – wenn auch von der Sorge getrübt, die jeder Krieg mit sich bringt – in den Gesichtern der Bürger, die sich trotz der späten Stunde an den Straßen der Hauptstadt drängten.
Der Strom von Pferden und gerüsteten Soldaten teilte sich vor der gewaltigen Statue des Wächters, dann floss er wieder zusammen, als sie sich den Stadttoren näherten, wo Llanes Familie auf einer hastig errichteten Plattform stand, um ihn zu verabschieden. Seine Tochter, die beinahe so groß war wie seine Frau und Taria mit jedem Tag ähnlicher sah, hatte die Hände gefaltet und imitierte perfekt die Gestik der Königin. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Adariall stärker zitterte als die Königin. Die Bürde einer Prinzessin, dachte Llane. Er nickte ihr aufmunternd zu, dann wanderte sein Blick weiter zu Varian. Der Junge sah prächtig aus in seiner formellen Tunika mit den Reithosen und dem Umhang, aber er beugte sich über das Geländer, als wollte er darüber klettern und seinem Vater in die Arme springen. Der Prinzenreif ruhte auf seinem dunklen Schopf, und seine Lippen waren fest zusammengepresst. Der Ausdruck ließ ihn ernst wirken, aber Llane wusste, was er wirklich bedeutete, und es zerriss ihm das Herz. Der Junge versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die seine Augen glänzen ließen. Er war empfindsamer, als gut für ihn war. Llane und Taria hatten viele beruhigenden Worte an ihre Kinder gerichtet, und jetzt, da Medivh wieder im Vollbesitz seiner Kräfte an seiner Seite stand, war Llane tatsächlich zuversichtlich – so zuversichtlich, wie er seit dem Beginn dieser fürchterlichen Krise nicht mehr gewesen war. Doch Varian hatte ein Talent dafür, die subtilen Blicke, die unausgesprochenen Sorgen aufzuschnappen. Eines Tages würde er einen großartigen König abgeben. Aber hoffentlich ließ dieser Tag noch eine Weile auf sich warten.
Am liebsten hätte Llane den Jungen umarmt, aber Varian war jetzt beinahe ein Mann, und eine so öffentliche Geste wäre ihm peinlich gewesen. Also begegnete er seinem Sohn mit der Würde, die er verdiente. „Es gibt keinen anderen, dem ich das Wohl meiner Familie anvertrauen würde, Varian. Gib auf sie acht, bis ich zurückkomme.“
Varians Kinn zitterte unmerklich, aber er nickte.
Taria, schlank und anmutig, blickte ihren Mann aus dunklen Augen an. Sie, die Schwester seines besten Freundes, die ein gutes Herz und einen kühlen Kopf besser gegeneinander ausbalancierte, als er es je könnte. Die ihn schon zahllose Male aus der Stadt hatte reiten sehen, einem möglichen Tod entgegen. Die ihn zaudernd und entschlossen erlebt hatte, am Boden zerstört und voller Freude. Und ihn in all diesen Momenten mit der gleichen Leidenschaft ihres Herzens geliebt hatte.
Sie hatten sich schon zuvor unter sich voneinander verabschiedet. Sie mussten keine Worte mehr wechseln. Sie wussten, was der andere dachte.
„Bereit?“ Es war Medivh, der dem Abschied ein Ende machte – früher, als Llane es sich gewünscht hätte. Der König nickte, und ohne ein weiteres Wort presste er seinem Pferd die Beine in die Seiten und trieb es auf die offenen Stadttore zu.
„Ich würde mich besser fühlen, wenn Anduin mit uns ritte“, gestand er dem Wächter.
„Wir werden es schaffen“, versicherte ihm sein alter Freund. „Ich werde nach Karazhan zurückkehren und mich auf die Schlacht vorbereiten. Die Frostwölfe werden unterwegs zu Euch stoßen. Wir treffen uns am Portal.“ Er wendete sein Pferd und galoppierte davon, zweifelsohne, um einen ungestörten Ort zu finden, wo er sein eigenes Portal erzeugen konnte. Vor den Toren erwarteten drei Legionen – laut Medivh alles, was sie brauchen würden – ihren Kommandanten.
Garona trieb ihr Pferd an, um die Lücke an der Seite des Königs zu füllen. Kurz begegneten sich ihre Blicke, dann sahen beide geradeaus. Llane wusste, dass sie sich auf die bevorstehende Schlacht konzentrieren sollten, aber er vermutete, dass Garona ebenso wie er an Anduin Lothar in seiner Kerkerzelle dachte.
Anduin Lothar wollte hinaus aus dieser Zelle.
Sofort.
Er starrte auf seine Knöchel, aufgeschlagen und blutig von seinen vergeblichen Versuchen, die Tür aufzubrechen. Er saugte das Blut von seiner Hand, und nachdem er ein wenig zur Ruhe gekommen war, versuchte er es erneut.