Sämtliche Kraft verließ Drakas Körper, während sie über ihrem gefallenen Feind zusammensackte. Sie wusste, dass sie starb, aber sie war voller Ruhe. Während ihr Blut den Sand tränkte, kehrten die Worte zu ihr zurück, die sie einst, nach ihrer Rückkehr aus dem Exil, an Durotan gerichtet hatte: Wenn die Sonne meines Lebens untergeht, dann soll es hier sein, am Frostfeuergrat.
Es sollte ihr nicht vergönnt sein, in ihrer Heimat zu sterben. Stattdessen tat sie ihre letzten Atemzüge hier, jetzt, in einem fremden Land, und ihr Gefährte würde sich ihr bald im Tode anschließen, sofern er sie nicht bereits erwartete. Das letzte Bild, das ihre Augen füllte, war der Korb mit ihrem Kind, wie er auf dem Wasser davontrieb. Und kurz bevor Schwärze sie umfing, glaubte Draka, Tochter von Kelkar, Sohn von Rhakish, zu sehen, wie die sanften Wellen des Flusses sich in die Umarmung liebevoller Arme verwandelten.
Wasser, nimm mein Kind!
Ihre Augen schlossen sich.
Wasser, beschütze …
Alle Häuptlinge der Horde und die meisten ihrer Krieger waren vor Gul’dans Zelt versammelt. Sie wirkten verwirrt, als sie den Frostwolf auf sich zumarschieren sahen. Durotan trug einen Wolfspelz über den breiten Schultern, und der Schädel des Tieres diente ihm als Kopfbedeckung. Er hatte bereits drei Wachen getötet, bevor sie ihren bösartigen Meister warnen konnten, und jetzt teilten sich die anderen vor ihm, ihre Blicke voller Verachtung, Arroganz und Neugier. Grimmig rammte er das versengte Banner in den Staub vor dem Zelt des Hexenmeisters.
„Ich bin Durotan, Sohn von Garad, Häuptling des Frostwolfclans“, rief er, seine Stimme von Zorn erfüllt. „Und ich bin hier, um Gul’dan zu töten.“
Er konnte sehen, wie sich ihre Körperhaltung änderte. Der Hochmut wich von ihnen, als sie erkannten, dass er keine Waffen trug, obwohl er hier war, um den mächtigsten von allen zum ehrenhaftem Kampf herauszufordern.
Seine grimmige, wahnsinnige Aussage lockte zumindest Schwarzfaust aus dem Zelt. Er musterte Durotan von Kopf bis Fuß. „Ein Geist kann kein Mak’gora fordern“, erklärte er. „Es gibt keinen Clan mehr, dessen Häuptling du sein könntest. Dein Volk ist Fressen für die Würmer.“
Durotan zwang seinen Zorn unter Kontrolle. Der Orc vor ihm war nicht das Ziel seines Hasses. Er öffnete den Mund zu einer Entgegnung, doch bevor er etwas sagen konnte, erklang neben ihm eine vertraute Stimme.
„Wir sind nicht alle tot, Kriegshäuptling“, rief Orgrim Schicksalshammer.
Überrascht drehte Durotan sich zu ihm herum. Orgrim hatte ihre Freundschaft zerstört, aber es war noch nicht zu spät für den Sohn von Talkar gewesen, seine Ehre wiederzufinden.
Jetzt, endlich, tauchte Gul’dan auf. Sein glühender Blick fiel erst auf Durotan, dann auf Orgrim, und er zog die Brauen zusammen. Die Worte, die er mit dem Kriegshäuptling wechselte, waren so leise, dass man sie kaum verstehen konnte.
„Soll ich kurzen Prozess mit ihm machen?“, fragte Schwarzfaust.
„Ich dachte immer, dir wären Traditionen wichtig, Schwarzfaust“, erwiderte der Hexenmeister. „Durotan“, sagte er dann etwas lauter, damit alle sie hörten. „Dein Clan war schwach, und du bist ein Verräter, aber ich akzeptiere deine Herausforderung. Wenn auch nur, um dir persönlich das Herz aus deinem erbärmlichen Leib zu reißen.“
„Was ist mit dem Portal?“, fragte Schwarzfaust seinen Meister, aber Gul’dans Blick blieb auf Durotan fixiert. „Ihr müsst bereit sein, wenn die Beschwörung beginnt.“
Die Beschwörung … Durotan wusste nicht viel darüber, wie genau das Portal geöffnet wurde; Gul’dan hatte dieses Wissen eifersüchtig gehütet. Aber falls er lange genug überlebte, könnte er vielleicht zumindest den Menschen helfen, die ihm so bereitwillig vertraut hatten.
„Es wird nicht lange dauern.“ Die breiten grünen Lippen des Hexenmeisters krümmten sich in einem grausamen, genüsslichen Lächeln um seine Hauer. Er reichte Schwarzfaust seinen Stab, dann griff er nach seinem Umhang, löste den scharfen Dorn, der als Verschluss diente, und der Umhang fiel zu Boden. Alle starrten ihn an.
Mit seinem weißen Bart und seinem faltigen Gesicht war er Durotan stets als alt und gebeugt erschienen. Doch in dem Moment, als der Umhang von seinen Schultern rutschte und seinen nackten Oberkörper enthüllte, da kam im heller werdenden Licht des Morgens ein Torso zum Vorschein, neben dem sich selbst Schwarzfaust wie ein Kind ausnahm. Muskeln wölbten sich unter der straffen grünen Haut eines Orcs, der aussah, als hätte er die Kraft von fünfen – genau, wie Grom Höllschrei es gesagt hatte.
Doch das war es nicht, was Durotan und die anderen in erschrockener Stille die Augen aufreißen ließ. Der Häuptling der Frostwölfe erinnerte sich noch an den Tag, als Gul’dan zum ersten Mal seinen Clan aufgesucht hatte. Damals hatte er denselben Umhang getragen, und Durotan hatte sich gefragt, wie er wohl die Dornen mit den winzigen Schädeln befestigt hatte, die aus dem Stoff ragten. Nun begriff er.
Die Dornen waren nicht an seinem Umhang befestigt gewesen. Sie hatten durch den Stoff hervorgeragt.
Mitsamt ihren makabren Verzierungen wuchsen sie aus Gul’dans Leib.
Der Hexenmeister genoss die Ehrfurcht und den Schrecken, die sein Aussehen ausgelöst hatte, und mit einem Anflug von Übelkeit wurde Durotan bewusst, dass diese von Fel-Magie verzerrte Monstrosität vermutlich recht hatte. Dieser Kampf würde nicht lange dauern.
Doch auch wenn Gul’dans Sieg unausweichlich war, Durotan würde ihm alles entgegenwerfen, was er hatte. Er trat nach vorne in den Ring, streifte seinen eigenen Wolfsumhang ab und blieb abwartend stehen, während Gul’dan ihn umkreiste.
Dann sprang er mit einem Brüllen vor.
Moroes war tot, eine ausgezehrte, papierartige Hülse, leer gesaugt wie die Überreste eines Insekts, nachdem eine Spinne sich daran gütlich getan hat. Im Leben so erhaben und würdevoll, lag er nun starr, mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Das Becken hinter ihm hatte sich grün verfärbt, und Schwaden finsterer Fel-Magie blubberten daraus empor.
Lothars Blick wanderte von dem toten Kastellan zur oberen Plattform. Er war gleichzeitig erleichtert und entsetzt, als er dort seinen alten Freund entdeckte. Er konnte das Gesicht des Wächters nicht sehen, aber er stand in einer unnatürlichen Haltung da, die Arme zum Himmel emporgereckt.
Lothar blickte zu dem jungen Magier hinüber. Khadgar nickte und schob sich ein Stück nach links, auf das Gerüst um den Golem zu, an welchem Medivh bei ihrem ersten Besuch gearbeitet hatte. Lothar machte einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Mit ein wenig Glück sollten sie den Wächter in die Zange nehmen können.
Und dann was?, fragte seine betrübte Seele.
Dann fällt mir schon was ein, erwiderte sein Verstand.
Er hatte geglaubt, dass er wütend sein würde, doch stattdessen empfand er nun vor allem Bedauern. „Medivh“, sagte er ruhig, behutsam.
Der Wächter hob den Kopf, und Grauen brandete durch Lothar hindurch. Sein Gesicht war noch erkennbar – aber gerade so. Linien wie Risse in Marmor zogen sich darüber, und sein Bart war durch eine Reihe kleiner, nach unten ragender Hörner ersetzt worden. Und seine Augen … waren pechschwarz.
Beifällig hob Medivh den Arm. Energie strömte, und Lothar wurde von dem Umriss einer riesigen gelblichen Hand ergriffen und in die Luft hochgehoben. Die Augen des Wächters glühten auf, eine kleine Eruption grünen Magmas, und die magische Hand presste sich fester um den Soldaten. Lothars Brustplatte verbog sich langsam, als wäre er ein Spielzeugsoldat, der von einem gelangweilten Kind zusammengequetscht wurde.
Hinter und unter der Plattform entfesselte Khadgar einen Energieball, der auf den Rücken des Wächters zielte. Dieser wehrte den Zauber jedoch mit der rechten Hand ab, ohne sich umzudrehen, und das blaue Geschoss raste zurück zu dem Magier, der es erschaffen hatte. Medivh löste seinen Griff um Lothar, und während sein alter Freund auf den Boden fiel, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Khadgar.