Doch der Magier war nirgends zu sehen. Lothar blieb einen langen, angespannten Moment liegen und tat so, als wäre er tot. Schließlich begann Medivh eine Beschwörung anzustimmen. Anduin hatte dem Wächter im Lauf der Jahre oft gelauscht, wenn er Zauber intonierte, aber noch nie hatte er etwas Derartiges gehört. Der Klang der Worte ließ seinen Mund austrocknen und eine Gänsehaut über seinen Körper rinnen. Er musste den Spruch nicht verstehen, um zu erkennen, dass es sich dabei um die dunkelste Magie handelte, die man sich nur vorstellen konnte.
Nun, da Medivh anderweitig beschäftigt war, kroch Lothar zu Khadgars Versteck hinüber. Der Magier hatte sich unter dem massigen Lehmkörper des Golems zusammengekauert.
Er wirkte bleich. „Das ist die Beschwörung der Orc-Heimatwelt. Er öffnet das Portal. Wir müssen ihn aufhalten!“
Unvermittelt erstarrte er. Lothar strengte seine Ohren an. Medivh bewegte sich über ihnen. Gewiss hatte er bemerkt, dass der „tote“ Anduin nicht mehr dort lag, wo er gefallen war, und nun suchte er nach ihnen.
„Vorschläge?“, wisperte Lothar. Khadgar fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dann sprang er auf die Füße und rief eine Zauberformel. Blaue Kugeln aus knisterndem Feuer stoben von seinen Fingerspitzen und flogen in die Richtung, aus der die Beschwörung erklang. Sie sprengten gewaltige Steinbrocken aus den Säulen und ließen sie, von Staub umwirbelt, einstürzen. Von Medivh fehlte leider jede Spur.
„Sehr beeindruckend.“ Die Stimme schien von überall gleichzeitig zu erklingen. „Jetzt versucht mal, ihn aufzuhalten.“
Direkt über ihnen loderte ein grünes Glühen auf. Die Beschwörung setzte sich fort, aber die Stimme, die sie sprach, war nicht länger die des Wächters. Sie stammte aus dem emotionslosen Lehmgesicht des Golems, in dem nun über einem grünen Mundschlitz Augen aus smaragdfarbenem Feuer brannten.
„Das hat ja prima geklappt“, murmelte Lothar.
Der Golem wollte sich offenbar nicht damit begnügen, nur ein Gefäß für Medivhs unheilige Gesänge zu sein. Er bewegte sich, streckte seine gigantischen Schultern, als würde er gerade aufwachen, und Teile des Gerüsts und diverse Werkzeuge prasselten auf den Boden hinab. „Tu was!“, rief Lothar. Khadgar warf ihm einen Blick zu, der sagte: Was kann ich schon tun? „Na schön“, brummte der Soldat grimmig. „Ich kümmere mich um ihn, du knöpfst dir Medivh vor.“
Der Magier schluckte, aber er nickte und begann an dem Gerüst nach oben zu klettern. Da richtete sich der Golem auf, von gewaltiger Kraft erfüllt, und zerschmetterte die Reste ebenjenes Gerüsts wie ein Gefangener, der seine Fesseln abstreift. Khadgar konnte sich gerade noch rechtzeitig mit einem Sprung zu der runden Plattform in Sicherheit bringen.
„He!“, rief Lothar, um die Aufmerksamkeit des Dings zu erregen. „Hier drüben! Lehmgesicht!“ Er warf ihm ein Werkzeug an den klumpenförmigen braunen Schädel. Der Golem drehte sich herum, schneller, als man es von einer so gewaltigen Kreatur erwarten würde, und fixierte den Menschen mit einem grün glühenden Blick. Einen Moment später sprang er vor wie ein riesiger Affe.
Seine linke Faust sauste herab, und Lothar hechtete zur Seite. Die Faust der Kreatur rammte sich dort in den Boden, wo er eben noch gestanden hatte. Der Golem ließ rasch einen zweiten Schlag folgen, wobei er seine rechte Faust in der hellgrünen Magie des Beckens versenkte. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, tropfnass und glühend, bestand sie nicht länger aus Lehm, sondern aus festem, schwarzem Stein. Als das Monster das nächste Mal zuschlug, brach seine Faust geradewegs durch den Boden, und Lothar stürzte in das darunterliegende Stockwerk.
Khadgar entfesselte unterdessen eine Energiekugel auf Medivh, aber der Wächter lenkte sie ab, und ihre neue Flugbahn ließ sie direkt in das Becken mit der Fel-Magie sausen.
Anschließend nahm der Wächter den jungen Magier mit einer Kanonade aus Feuerbällen und Energieblitzen unter Beschuss. Khadgar schaffte es irgendwie, sie abzuwehren, aber seine Versuche, sie auf Medivh zurückzulenken, scheiterten, denn die magischen Geschosse wurden von der Macht der Fel-Magie erfasst und fingen an, um das befleckte Becken herumzuwirbeln. Medivh verstärkte seine Offensive derweil noch weiter, scheinbar ohne jegliche Mühe.
Khadgar sammelte all seine magische Energie, griff nach den wirbelnden Schwaden, die über dem Becken hingen, und schleuderte dem Wächter ihre geballte Macht entgegen. Medivh sprang im letzten Moment in Deckung, während alles um ihn herum zerfetzt wurde.
Stille senkte sich über den Raum. Hatte Khadgar es vielleicht wirklich geschafft …
Langsam und vorsichtig schob er sich auf die Stelle zu, wo Medivh gelandet war.
Doch da war nichts. Der Wächter war verschwunden.
20
Mit einem Brüllen überbrückte Durotan die Entfernung zwischen sich und Gul’dan, schnell wie einer von Drakas Pfeilen. Sein Faustschlag traf den Hexenmeister mit voller Wucht am Kiefer, und sein Gegner, der davon völlig überrascht wurde, stolperte nach hinten und fiel. Doch bevor Durotan seinen Vorteil nutzen konnte, war Gul’dan bereits wieder auf den Füßen. Er packte den Frostwolf am Hals, hob ihn vom Boden hoch und drückte ihm die Kehle zu.
Durotans Sicht verschwamm, aber er gab nicht auf. Er würde weiterkämpfen, bis er starb. Dabei war es nicht wichtig, ob er überlebte; er musste nur tun, was er Orgrim versprochen hatte – der Horde das wahre Gesicht ihres Anführers zeigen. Er schlug erfolglos nach dem verzerrten grünen Gesicht des Hexenmeisters, dann ertasteten seine suchenden Hände zwei von Gul’dans Hörnern. Noch während sich die Finger um seinen Hals fester schlossen, zerrte er mit aller Kraft an den Dornen, bis eine von ihnen abbrach. Das spitze Ende benutzte er anschließend wie einen Dolch und stach mit diesem unnatürlichen Horn auf Gul’dan ein.
Der andere Orc brüllte, aber diesmal vor Schmerz, nicht vor Zorn. Er schleuderte Durotan mehrere Meter von sich, wo der Frostwolf hart landete und nach Atem rang. Knurrend stürmte Gul’dan auf ihn zu. Er war riesig, sein Körper geschmückt mit widernatürlichen Dornen und Hörnern, seine Muskeln stärker als die seines Gegners. Seine Hiebe prasselten nur so auf Durotan ein, jeder davon ein wirkungsvoller Treffer, aber der Frostwolf sammelte seine Kräfte, und als Gul’dan erneut zuschlug, wehrte er den mächtigen Schlag mit einem Tritt ab und rollte sich zur Seite. Noch einmal sauste Gul’dans Faust herab, und noch einmal wich Durotan aus, bevor er seinerseits zuschlug.
Der Hexenmeister bekam jedoch seinen Arm zu fassen und zog ihn auf sich zu, um ihm die flache Hand auf die Brust zu pressen. Grünes Licht hüllte seine Finger ein, und Gul’dan blickte sich verstohlen um.
Mit einem Mal zitterten Durotans Beine, als würden sie jeden Moment nachgeben. Schwäche breitete sich in ihm aus, und er sah einen dünnen weißen Strom von seinem Körper in Gul’dans Hand fließen. Vor seinen erschrockenen Augen wurde der Körper des Hexenmeisters noch größer, schwollen seine Muskeln noch weiter an. Lachend packte Gul’dan seinen Arm und drehte ihn aus dem Gelenk. Durotan spürte brennenden Schmerz, hörte ein schnappendes Geräusch, und dann hing sein Arm nutzlos an seiner Seite herab.
Er fiel auf die Knie. Gul’dan trat zurück, und nach einem triumphierenden Grinsen hob er die mächtige Faust zum tödlichen Schlag.
Durotan brüllte und sprang unvermittelt vor. Sein Kopf donnerte gegen die Brust des Hexenmeisters und ließ ihn mehrere Schritte nach hinten taumeln. Durotan gab ihm aber keine Gelegenheit, sich zu erholen. Er ballte seine unverletzte Faust und landete Treffer um Treffer. Jedes Mal, wenn er das unnatürliche Fleisch berührte, stellte er sich das Gesicht eines Frostwolfes vor, erfüllt von Leidenschaft und Gerechtigkeit. Kurvorsh. Shaska. Kagra. Zakra. Nizka.