Draka.
Go’el.
Ein Geräusch übertönte das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und die Rufe der versammelten Menge. Es war die Stimme eines Menschen, aber gleichzeitig auch nicht, und sie sang. Hoffnung stieg in Durotan auf. Gul’dan musste am Portal sein und unschuldige Menschenleben opfern, um das große Tor zu öffnen und den Rest der Horde hierher zu führen. Stattdessen war er hier – und kämpfte gegen ihn.
Der Hexenmeister hörte das Geräusch jedoch ebenfalls. Er rammte Durotan die geballte Faust gegen den verletzten Arm, sodass dieser vor Schmerzen aufbrüllte. Allein die Willenskraft des Frostwolfes verhinderte, dass er das Bewusstsein verlor, während er nach hinten taumelte und auf Hände und Knie fiel.
Gul’dan fluchte. Er setzte seinen Angriff nicht weiter fort. „Ich habe keine Zeit für so etwas“, knurrte er. „Schwarzfaust.“
Der Kriegshäuptling musterte Durotan abschätzig, wobei ihm weder sein nutzlos herabbaumelnder Arm entging noch das Blut auf seinem Gesicht und seinem Körper oder sein stoßweiser Atem. Anschließend wanderte Schwarzfausts Blick zu Orgrim und dem Banner, das Durotan so trotzig in die Erde gerammt hatte. Zu guter Letzt sah er Gul’dan an.
Und er grinste.
„Dies ist das Mak’gora“, sagte er. „Wir werden unsere Traditionen ehren. Kämpft weiter!“
Gul’dan warf dem Kriegshäuptling einen vernichtenden Blick zu, und ein neues Gefühl der Hoffnung erfüllte Durotan. Falls Schwarzfaust erkannte, wie unwürdig, wie ehrlos der Hexenmeister war, dann mussten die anderen es gewiss ebenfalls sehen. Als Gul’dan erneut vorstürmte, bewegte er sich nicht mit hämischer Arroganz, sondern mit verzweifelter Dringlichkeit. Sie verlieh seinen Faustschlägen noch mehr Kraft, aber sie machte ihn auch achtloser. Wieder und wieder konnte Durotan Hieben ausweichen, die ihm ansonsten vermutlich den Schädel zertrümmert hätten, und er konterte mit seinen eigenen, mächtigen Attacken, auch wenn er dabei nur eine Hand benutzen konnte. Doch wann immer einer von Gul’dans Schlägen sein Ziel fand, war der Schmerz unerträglich. Mehr als einmal spürte Durotan, wie eine Rippe unter der geballten Faust des Hexenmeisters brach, aber er weigerte sich aufzugeben.
Kämpf weiter. Für deinen Clan, für die Orcs, die noch leben. Für ihre Kinder.
Ein Schwinger in den Magen ließ ihn straucheln, und nur mit Mühe gelang es ihm, zur Seite zu stolpern. Der nächste Schlag raubte ihm auf einem Auge die Sicht, aber auch diesen Schmerz erduldete er. Er kämpfte weiter. Und langsam spürte er, wie sich das Blatt wendete.
Wo vorhin noch hämische Rufe erklungen waren, breitete sich zunächst Stille aus, dann erklang bewunderndes Gemurmel. Gul’dans Kopf ruckte herum, und er starrte die Orcs an. „Seine“ Horde.
Seine Lippen verzogen sich vor Verachtung, und er presste Durotan die Hand auf die Brust, um ihm die verbliebene Kraft auszusaugen.
Ein Keuchen ging durch die Menge. „Gul’dan betrügt!“, empörte sich eine Stimme. Obwohl Durotan spürte, wie sein Leben aus ihm herausgesaugt wurde, um Gul’dan noch monströser zu machen, war er zufrieden. Er hatte es geschafft. Jetzt konnte der Hexenmeister seine Handschrift nicht länger verbergen; Durotan wusste, dass er inzwischen den gefangenen Draenei ähneln musste, die ihrer Energie beraubt worden waren, bis ihre Körper verformt und ausgetrocknet im Staub lagen. Er zwang Gul’dan, der Horde sein wahres Gesicht zu zeigen.
Der Hexenmeister zog die Hand zurück, während sie noch in den weißen Dunst von Durotans Leben eingehüllt war. Er ballte sie zur Faust und schmetterte sie seinem Gegner vor die Brust, sodass der Frostwolf durch die Luft segelte und hart landete. Der Schmerz war unerträglich. Nur ein dünner Faden verband ihn noch mit der Welt der Lebenden.
Nun wurden Rufe laut. „Ihr betrügt, Gul’dan!“ – „Schande über Euch!“ – „Ihr entehrt unsere Traditionen!“
Einmal musste Durotan sich noch aufrichten. Jede Sehne, jeder Muskel, jeder Tropfen Blut war von brennender Qual erfüllt. Allein mit der Kraft seines Willens kämpfte er dagegen an und stemmte sich schwankend auf die Füße hoch. Er konnte kaum atmen, aber er füllte seine Lungen und rief: „Gul’dan! Du hast keine Ehre!“
Mit einem tiefen Grollen, das von Schritt zu Schritt lauter wurde, stürmte der Hexenmeister auf ihn zu. Diesmal schwang er nicht die Fäuste, sondern streckte die offenen Hände aus, um nach seinem Gegner zu greifen. Durotan stemmte sich gegen ihn, aber er hatte keine Kraft mehr, und Arme stark wie Eisenstränge schlangen sich um ihn. Gul’dan presste ihn im Zerrbild einer Umarmung an sich, ohne darauf zu achten, was die Horde sah oder dachte. Er drückte sich gegen den rasch erschlaffenden Leib des Frostwolfs, damit seine Haut ihm noch mehr Lebensenergie aussaugen konnte. Einen Moment später spürte Durotan, wie seine Wirbelsäule zerbrach. Durch einen Schleier aus Schmerzen sah er ein seltsames goldenes Licht, das aus seinem Körper strömte – seine Seele vielleicht? Er wusste es nicht. In jedem Fall nährte es den unersättlichen, von Fel-Magie getriebenen Hunger des Hexenmeisters. Gul’dan lächelte triumphierend zu ihm hoch, während er durch den Ring schritt, wie um Durotans sterbenden Leib zur Schau zu stellen. Dann endlich, als er ihm keine weitere Energie mehr entreißen konnte, warf er seinen Gegner angewidert in den Staub.
Diesmal würde Durotan nicht wieder aufstehen.
Er starrte nach oben und sah Orgrim. Da er nicht länger sprechen konnte, versuchte er, beschwörend die Hand zu heben, aber er war nicht einmal in der Lage, einen Finger zu bewegen. Orgrim begriff dennoch. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er nickte. Er, der die Frostwölfe verraten hatte, würde nun für sie sprechen.
Und es war gut so.
Die anderen Orcs hatten es gesehen. Durotan hatte sein Ziel erreicht.
Seine Aufgabe war erfüllt.
Orgrim blickte sich unter den versammelten Orcs um. „So etwas wollt ihr folgen?“, rief er, und all sein Hass und seine Verachtung flossen in diese Worte. „Wirklich? Ihr wollt einem Dämon folgen? Ich nicht. Ich werde einem echten Orc folgen. Einem Häuptling!“
Die Menge starrte ihn murmelnd an. „Er sieht nicht einmal mehr aus wie ein Orc“, hörte Orgrim jemanden sagen. Gul’dan stand keuchend vor ihnen, einen herausfordernden Ausdruck auf dem Gesicht. Mehrere Orcs wandten sich ab, um davonzugehen, und unter ihnen entdeckte Orgrim auch einige, deren Haut einen grünlichen Schein aufwies. Sie hatten gesehen, welches Schicksal ihnen bevorstand, falls sie weiterhin die Fel-Magie benutzten, und sie waren zu dem Schluss gekommen, dass sie nichts damit zu tun haben wollten.
Orgrim blickte wieder zu seinem Freund und Häuptling hinüber, dem er in den Rücken gefallen war. Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, lag reglos, aber er war genauso gestorben, wie er gelebt hatte: mit Mut, seinen Überzeugungen folgend und im ehrlichen Kampf gegen einen bösartigen Gegner.
Er erinnerte sich an Durotans Worte, bevor die Frostwölfe die Reise in den Süden unternommen hatten, um sich der Horde anzuschließen: Wirklich unumstößlich ist nur ein Gesetz, eine Tradition. Und zwar die, dass ein Häuptling tun muss, was für seinen Clan am besten ist.
An diesem Tag waren nicht die Frostwölfe Durotans Clan gewesen, sondern die gesamte Horde.
Orgrim kniete sich neben den gefallenen Häuptling, griff nach einem seiner Hauer und löste ihn aus dem Kiefer. „Für deinen Sohn“, sagte er. „Auf dass er von deinem Geist lernen möge.“
„Um dich werde ich mich später kümmern, Orgrim Schicksalshammer“, drohte Gul’dan. Weitere Orcs gingen davon, angewidert von dem grässlichen Spektakel, das sie gerade gesehen hatten. Einer von ihnen zischte: „Eure Macht ist den Preis nicht wert, Hexenmeister!“ Orgrim hielt inne; er wollte sehen, wie sich diese Situation entwickelte. Gul’dan, der vor Wut förmlich schäumte, streckte die Hand aus. Drei Orcs, die das Pech hatten, in seiner Nähe zu stehen – unter ihnen auch zwei, die treu zu dem Hexenmeister gestanden hatten –, krümmten sich vor Schmerz. Ihre Lebensenergie wurde nicht ausgesaugt, sondern ihnen brutal aus dem Körper gerissen. Während die weiße Energie in seine ausgestreckte Hand strömte, hob Gul’dan auch den anderen Arm, und das helle, nur allzu vertraute Grün von Teufelsenergie wallte von seinen Fingern.