„Hat sonst noch jemand etwas zu sagen?“, grollte er. Jene, die sich noch nicht außer Reichweite des wütenden Hexenmeisters zurückgezogen hatten, scharrten nervös mit den Füßen. Sie wollten nicht bleiben, aber ebenso wenig wollten sie das Schicksal ihrer Kameraden teilen. Oder Durotans Schicksal.
„Und du, Kriegshäuptling!“ Umgeben von Teufelsenergie wirbelte Gul’dan herum, streckte die Hand vor und jagte Schwarzfaust alles in den Leib. Der Orc fiel schreiend zu Boden, wo er zuckte, sich wand und schüttelte. „Du wirst die Fel-Magie annehmen“, rief der Hexenmeister über dieses gequälte Heulen hinweg, „und du wirst stärker werden, als je ein Orc es war! Und wenn die Teufelsenergie dich verwandelt hat, werden wir die Kleinzähne zermalmen!“
Die grüne Energie flutete über und durch Schwarzfaust. Seine Muskeln schwollen an, bis ihm an mehreren Stellen die Rüstung vom Körper platzte. Adern, die wie Ranken aussahen, pumpten grünes Blut durch seinen Leib, bis hin zu den metallischen, klauenartigen Fortsätzen, die aus seiner Haut gesprossen waren. Der Kriegshäuptling hob den Blick, seine Augen so grell leuchtend, dass teuflischer Nebel sie zu umgeben schien. Orgrim wandte sich ab, körperlich und geistig angewidert. Es war zu spät für Durotan, es war zu spät für Schwarzfaust. Doch für ihn war es noch nicht zu spät und auch nicht für die anderen, denen das Opfer des Frostwolf-Häuptlings die Augen geöffnet hatte.
Orgrim marschierte in den Wald, fort von der Teufelsarmee und ihren falschen Versprechungen. Hinter sich hörte er Gul’dan brüllen. „Und jetzt – erobern wir meine neue Welt!“
Der Schwarze Morast, der Feind und unschuldige Gefangene erwarteten König Llane und seine Truppen hinter der nächsten Anhöhe. Garona, die neben ihm ritt, warf ihm immer wieder besorgte Blicke zu.
Schweigend erreichte die kleine Gruppe die letzte Hügelkuppe, und Llanes Magen verwandelte sich zu Eis.
Die Frostwölfe werden unterwegs zu Euch stoßen, hatte Medivh gesagt.
Und da waren sie. Aufgespießte Orcs säumten die Straße, eine obszöne Einladung, das gewaltige Lager des Feindes zu betreten. Grauen schnürte Llane die Kehle zu, als er von einer Leiche zur nächsten blickte. Einigen baumelten Anhänger mit dem Symbol des Clans von den Hälsen, anderen war das Frostwolfbanner in den Mund gestopft worden. Es waren so viele …
Medivh hatte sich geirrt. Die Rebellion war erstickt worden, und alles, was von ihren vermeintlichen Verbündeten noch übrig war, waren Leichen – blutverkrustet, starr … oder in schlimmerem Zustand.
Er atmete tief ein und zwang sich, an dem schrecklichen Spektakel vorbeizublicken, vorbei auch an dem Meer von Orczelten, hinüber zu den Käfigen mit den Gefangenen. Seinen Leuten – die zumindest für den Moment noch lebten. Und dahinter: das große Tor. Das dunkle Portal, aus welchem schon bald eine Flut blutrünstiger Eindringlinge hervorstürmen würde. Die Horde würde über Azeroth herfallen und seine Bewohner abschlachten. Die Teufelsenergie, die sie stark machte, würde dieser Welt das Leben aussaugen und sie in ein ebenso verdorrtes und karges Land verwandeln wie die Heimat der Orcs. Der Prozess hatte bereits begonnen. Der Schwarze Morast war eigentlich ein Sumpf, aber in dem Bereich um das Portal gab es nur ausgetrocknete Erde, ein beunruhigender Vorgeschmack auf das, was noch kommen würde.
Es sei denn, jemand hielt sie auf.
„Dann müssen wir wenigen es also richten“, brummte er. Plötzlich ging ein Regen aus Feuer und Stein auf sie nieder, abgefeuert von mehreren verborgenen Katapulten. Sie waren geradewegs in eine Falle geritten – Hoffnung war der Köder gewesen, Schrecken der Haken, und Tod der wahrscheinlichste Ausgang für die drei Legionen, die Llane bei seinem törichten Unterfangen gefolgt waren.
Wut vertrieb die Verzweiflung aus seiner Brust. Zorn und Respekt vor der Tapferkeit seiner Truppen standen ihm ins Gesicht geschrieben, als er sein Schwert zog. „Vertraut auf eure Ausbildung! Vertraut auf eure Waffen! Reitet mit mir! Die Frostwölfe sind gefangen, aber mit der Hilfe des Wächters können wir noch immer das Tor vernichten und unsere Leute nach Hause holen.“
Trotziges Gebrüll erhob sich, und obwohl es nur von einer erbärmlichen Handvoll Kehlen ausgestoßen wurde, war es voller Leidenschaft und Entschlossenheit. Der König von Sturmwind und seine drei Legionen stürmten vor, ihren Schlachtruf auf den Lippen. Tieferes, dunkleres Gegröle antwortete ihnen, und dann polterte ihnen auch schon die orcische Armee entgegen.
Gul’dan gefiel nicht, dass er übertölpelt worden war. In seiner Wut über den sturen Frostwolf, der einfach nicht sterben wollte, hatte er sich dazu hinreißen lassen, seine Fel-Magie zu zeigen. Das hatte ihn einige seiner besten Krieger gekostet, einschließlich Orgrim. Es war dumm, einem Frostwolf zu vertrauen, dachte der Hexenmeister bitter. Jetzt waren sie fort, aber schon bald würden zehn-, hundertmal so viele neue Krieger durch das große Tor strömen. Seine Horde.
Mehr als einmal war Medivhs Beschwörung während der letzten Sekunden unterbrochen worden, doch auch das war unwichtig. Jedes Mal hatte er seinen Singsang wieder aufgenommen, und von seiner Plattform über dem Schlachtfeld konnte Gul’dan sehen, dass weiterhin alles nach Plan verließ. Schwarzfaust, durch die Fel-Magie aufgedunsen und unbesiegbar, war jetzt dort unten. Wie Medivh Gul’dan versprochen hatte, war der Menschenkönig mit drei läppischen Legionen angerückt. Sicher, sie trugen Waffen, wie der Hexenmeister sie noch nie zuvor gesehen hatte, aber sie waren weit in der Unterzahl, und was bedeuteten schon Waffen, wenn es keine Hände gab, die sie benutzen konnten?
Hinter alledem ragte das Tor auf.
Zuvor – ehe das Ritual wirklich begonnen hatte – hatten Orcs hindurchschreiten können, als wäre es einfach nur ein normaler Durchgang. Doch jetzt … jetzt konnte er auf der anderen Seite Draenor sehen. Und er sah auch Umrisse, die sich bewegten. Orcs. Sie waren bereit, nein, mehr als bereit, hindurchzumarschieren und sich von der Fel-Magie durchdringen zu lassen. Bereit, zu nehmen, zu verschlingen, alles an sich zu reißen.
Es war Zeit. Euphorie erfüllte Gul’dan. Der Moment, den Medivh ihm versprochen hatte, war gekommen. Dies war der Triumph des sogenannten Wächters von Azeroth, der Triumph der Fel-Magie … Gul’dans Triumph. Er ging zu den Käfigen mit den verängstigten Menschen, genoss eine Weile ihre Furcht und breitete dann die Hand aus, um ihnen ihre wertvolle, süße Lebensenergie zu entziehen. Ihre Schreie waren Musik in seinen Ohren, und mit einem Grinsen hob er auch die andere Hand.
„Kommt, meine Orcs“, sagte er in fürsorglichem Ton, wie ein Vater, der zu seinem geliebten Kind spricht. „Lasst die Teufelsenergie die ganze Macht der Horde entfesseln!“ Seine andere Hand zuckte vor, in die Richtung des fernen Portals, und ein Strom aus smaragdgrüner Energie explodierte aus seiner Handfläche. Er schoss durch die Luft, unbeeinflusst von der Schlacht am Boden darunter, wo Leben endeten und Blut sprudelte. Der Beschwörungsgesang beschleunigte diesen Strom noch, trieb ihn auf das Tor zu. Sein einziges Ziel war es, das Portal zu öffnen, auf dass noch mehr Fel-Magie hereintosen und weitere Opfer fordern konnte.
Und schon stürmten die ersten, winzigen Gestalten durch das Tor, mit blutrünstigem Gebrüll und gezückten Waffen.
Medivhs Stimme erklang noch immer aus dem Mund des Lehmmannes, der nun ein mächtiges, baumstammdickes Bein ausstreckte und auf die Stelle stampfte, wo Lothar auf dem unteren Stockwerk stand. Der Krieger schlug wild auf den Golem ein, und sein Schwert biss tief, hackte wieder und wieder in den schweren Lehm, bis es ihm schließlich gelang, die Gliedmaße unterhalb des Knies zu durchtrennen. Das Monster zuckte zusammen. Lothar rollte sich aus dem Weg, aber das verfluchte Ding wollte nicht umkippen! Wütend starrte er zu ihm hoch. Da sah er etwas, das von der Schulter des Golems herabhing: das Werkzeug, das Medivh benutzt hatte, um Lehmstreifen abzuschaben – einen langen Draht mit zwei hölzernen Griffen an den Enden.