Die Orcs drängten weiter auf sie ein. Beim Licht, dachte Llane. Er war noch immer wie benommen vor Erleichterung, nachdem sich die Lage so dramatisch verändert hatte. Hätte Gul’dan den Rest der Horde hierhergebracht, hätten wir überhaupt keine Chance gehabt. Die Menschheit wäre vermutlich untergegangen.
„Mylord, wir müssen uns zurückziehen!“ Der Ruf stammte von Varis. Der Mann war tapferer als die meisten, aber er hatte recht. Die Orcs begannen den Kampf vor dem Portal zu gewinnen. Mehr und mehr Soldaten gingen zu Boden, mehr und mehr braun- und grünhäutige Krieger drängten sich vor, um durch die Lücken zu stoßen.
„Wir sollten gehen“, pflichtete Garona bei.
„Gleich“, sagte Llane. „Es sind noch Käfige übrig. Wir befreien so viele unserer Leute wie nur möglich.“
„Herr“, entgegnete Varis. „Ich glaube, Ihr versteht nicht …“
Hinter dem König erklang ein Schrei voller Grauen und Furcht, und als er sich im Sattel umwandte, wich ihm das Blut aus den Wangen.
Das blaue Licht, das die Mitte des Portals umgab, flackerte und mit ihm auch das Bild von Sturmwind. Vor Llanes erschrockenen Augen schmolz die prachtvolle Stadt dahin wie Wachs, so, als wäre sie nie da gewesen. Alles, was man jetzt noch auf der anderen Seite des Portals sehen konnte, war die Trostlosigkeit des Schwarzen Morasts oder was noch davon übrig war – und die Orcs, die um das Tor herumgerannt waren.
Das Portal hatte sich geschlossen.
Ihre Feinde hatten es ebenfalls bemerkt, und auch sie schrien nun, wenn auch vor Blutdurst und einem Hunger, der schon bald gestillt werden sollte. Llanes Gedanken überschlugen sich. Was war geschehen? Warum hatte Medivh aufgehört? Es dauerte nicht lange, bis er zu der einzig logischen Schlussfolgerung gelangte.
„Wir haben den Wächter verloren“, murmelte er.
Er blickte über die Masse der Orcs hinaus, dann zu seinen Kameraden hinüber. Ihnen allen stand derselbe, schockierte, benommene Ausdruck ins Gesicht geschrieben. Sie waren so nahe dran gewesen …
Doch das war jetzt unwichtig. „Wir haben unsere Aufgabe erfüllt“, erklärte er ihnen, wobei er jedem einzelnen in die Augen blickte. Ein seltsames Gefühl des Friedens überkam ihn. „Niemand hätte mehr tun können. Alles ist, wie das Licht es will, meine Brüder und Schwestern.“
Er wandte sich zu Garona um und lächelte ihr zu. Sie hatte natürlich auf einen Sieg gehofft – das hatten sie alle. Letztlich hätte ein Sieg die Orcs ebenso gerettet wie die Menschen, aber die Situation ließ sich nicht ändern.
Oder vielleicht doch?
Eine Idee, gleichzeitig wundervoll und fürchterlich, nahm in seinem Geist Gestalt an. Llane richtete seine Aufmerksamkeit auf den Feind. An den Rändern ihrer Verteidigungslinie wurde noch immer gekämpft, aber hier, in der Mitte hatte der Ansturm seltsamerweise nachgelassen. Und jetzt sah der König auch, warum.
Schwarzfaust schob sich durch die Menge.
Er überragte selbst den größten Orc um einen ganzen Kopf, seine Haut war von einem tiefen Grün, und Adern standen wie Drahtseile von seinen mächtigen Muskeln ab. War es noch Blut, das durch diese Adern floss, fragte sich Llane, oder war es grünes Feuer? Unwichtig. Der Kriegshäuptling kam auf ihn zu, stieß Orcs und Menschen gleichermaßen aus dem Weg – jeden, der zwischen ihm und dem König stand.
„Garona“, sagte Llane, selbst überrascht, wie ruhig und zuversichtlich er klang. „Wir sind in der Unterzahl. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit. Wir werden sterben. Aber du musst dieses Schicksal nicht teilen. Niemandem ist geholfen, wenn wir beide sterben.“ Langsam, mit zitternder Hand nahm er seinen Helm ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Die kühle Luft auf seinem Gesicht und in seinem schweißgetränkten Haar fühlte sich erfrischend an.
Sie reckte das Kinn vor. „Ich werde mit euch sterben. Ich habe meine Seite gewählt.“
„Du verstehst nicht.“ Er richtete nun seine ganze Aufmerksamkeit auf sie, und seine dunklen Augen brannten sich in die ihren. „Es gibt nur eine Hoffnung auf Frieden: Du musst mich töten. Einst sagtest du Lady Taria, dass ihr Tod dir Ehre bringen würde. Mein Tod würde dich zur Heldin machen.“
Garona riss die Augen auf, als sie begriff. „Nein!“, stieß sie hervor.
Allein der Gedanke an einen solchen Verrat verletzte sie, das konnte Llane sehen. Doch er hätte auch Lothar – oder selbst Taria – um denselben Gefallen gebeten, wäre die Lage eine andere gewesen.
„Du warst eine Sklavin“, fuhr er eindringlich fort. „Jetzt könntest du eine Anführerin werden. Ich werde diesen Ort so oder so nicht lebendig verlassen, Garona. Dieses Ding wird mich töten. Aber falls du ihm zuvorkommst – falls du den Sieg über den Kriegshäuptling der Menschen für dich in Anspruch nehmen kannst … Du kennst uns, Garona. Du kennst uns – und du hasst uns nicht.“
Er griff nach der Hand, in der sie Tarias kleines Messer hielt, und packte ihr Handgelenk. „Überlebe. Schaffe Frieden zwischen Orcs und Menschen.“ Er hielt inne. „Ich kann mein Volk nicht mehr retten. Aber du schon.“
„Indem ich den König, meinen Freund, töte.“ Sie war wütend, empört … verletzt.
„Du musst.“
Es war brutal, aber es stimmte, und es fühlte sich wie etwas an, das auch ein Orc sagen würde. Llane wusste, dass Garona gelernt hatte, das Gute in den Menschen zu sehen, ebenso, wie er und andere gelernt hatten, das Gute in Orcs zu sehen. Vermutlich würden Lothar, Khadgar … Taria … die Notwendigkeit dieses grausamen Schrittes nicht verstehen, nicht sofort. Doch die Zukunft des menschlichen Geschlechts konnte nur durch das Blut ihres Königs erkauft werden. Garona musste das ebenfalls klar sein, auch wenn sie echte Akzeptanz gegen falsche Ehre eintauschen müsste.
Doch Llane sah in ihren Augen, dass sie es nicht tun konnte. Verzweiflung überkam ihn, und er wandte den Blick ab. Die Schlacht tobte noch immer, und noch immer starben seine Leute. Das monströse Ding, das einst ein Orc gewesen war, kam unaufhaltsam auf ihn zu, wobei seine Augen vor Fel-Magie grün leuchteten.
Llane wollte nicht sterben. Er wollte leben, bei seiner Frau und seinen Kindern sein, Hochzeiten und Geburten feiern, mit Lothar und Medivh anstoßen, Harmonie und Frieden in seinem Reich genießen. Er wollte sehen, wie wunderschön Taria sein würde, wenn Lachfalten ihre Lippen säumten und die Weisheit ihr Haar silbern färbte.
Doch der Tod nahte, und er würde sich ihm tapfer stellen. Das war alles, was er jetzt noch tun konnte. Er zog sein Schwert und stellte sich dem Orc entgegen, den sie Schwarzfaust nannten.
In diesem Moment spürte er eine Berührung an seinem entblößten Hals, leicht wie eine Feder. Kühle Finger mit den Schwielen vieler Jahre kratzten sanft über seine Haut, während sie sich unter sein Kinn schoben und seinen Kopf nach hinten neigten.
Ja.
Llane stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung und der Dankbarkeit aus und schloss die Augen. Er gab sich ganz dieser Berührung hin, bot der Frau, die hinter ihm stand, bereitwillig seine Kehle an. Garona würde tun, worum er sie gebeten hatte, auch wenn es ihr das Herz brach. Sie würde gewaltigen Hass ernten, das wusste und bedauerte Llane, aber der Tag würde kommen, an dem all dies richtiggestellt würde.
Sein Tod würde nicht umsonst sein – und ihr Leid hoffentlich auch nicht.
Er dachte an Taria, ihre großen, sanften Augen, das süße, heimliche Lächeln, das sie nur ihm schenkte – dann beendete der Dolch seiner Königin, gehalten von einer wahren Freundin, sein Leben.
Die Greifin reagierte auf die Ungeduld, die sie in ihrem Reiter spürte, und ging tiefer. Vor Lothar breitete sich eine Szene des Wahnsinns aus. Da war das Tor, nunmehr geschlossen dank seiner und, wichtiger noch, Khadgars Bemühungen, und auch die meisten Käfige waren geöffnet, die Gefangenen daraus befreit.