Doch in dem Panorama dahinwalzender Körper und orange glühender Feuer unter ihm stach viel zu selten das Glühen von Sturmwind-Rüstungen aus dem Meer grüner und brauner Haut hervor. Panisch suchte er nach dem Banner des Königs, aber er konnte es einfach nicht finden. Alles, was von den drei Legionen noch übrig war, eine erbärmliche Handvoll an Soldaten und Pferden, hatte eine letzte, unhaltbare Verteidigungslinie errichtet, direkt vor dem Portal, das nun nirgendwo mehr hinführte.
Wo war Llane? Wo war sein König?
Die Greifin stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Lothar klammerte sich mit der linken Hand an der Kreatur fest, während er in der rechten sein Schwert hielt. Seine Augen huschten über das Schlachtengemälde und suchten nach dem besten Punkt für einen Angriff.
Dort.
Der Kriegshäuptling Schwarzfaust, den Lothar seiner Hand beraubt hatte – und der Lothar im Gegenzug seines Kindes beraubt hatte. Er wirkte jetzt noch einschüchternder als zuvor, ein unnatürlich großes Monster, das geradezu gelassen seine Waffe schwang. Die wenigen Soldaten aus Sturmwind, die noch übrig waren, fielen so schnell unter seinen Hieben, dass es beinahe komisch gewirkt hätte, wäre es nicht so unvorstellbar schrecklich gewesen.
Ein Farbklecks zeigte sich in den feindlichen Reihen, als Schwarzfaust einen gefallenen Soldaten in die Höhe hob. Der Ritter wurde von einem Orc zum nächsten weitergereicht wie ein Weinschlauch bei einem Fest, und die Krieger der Horde lachten und johlten. Lothar erhaschte ein kurzes Aufblitzen von Blau und Gelb, eine verzierte und sorgfältig gehämmerte Rüstung …
Ein roter Schleier legte sich vor seine Augen. Vermutlich schrie er auch, denn sein Hals begann zu schmerzen und ein schrecklicher Laut übertönte den Schlachtenlärm in seinen Ohren.
Die Greifin landete direkt auf einem grünhäutigen Orc und begann ihn mit Schnabel, Klauen und Hinterbeinen in Stücke zu reißen, während Lothar von ihrem Rücken sprang, einen weiteren Orc erstach, bevor dieser überhaupt reagieren konnte, und dann seinen Streitkolben nahm, als die Grünhaut zusammenbrach.
Llane. Llane.
Sie hatten ihn fallen gelassen – seinen König, seinen Bruder –, um sich herumzudrehen und diesen neuen Feind zu stellen, der so unerwartet aus dem Himmel herabgestürzt war. Ohne auf die Verletzungen aus seinem Kampf mit Medivh zu achten, ohne auf überhaupt irgendetwas außer dem Schwingen seines Schwertes und seinen gefallenen Freund auf dem harten, trockenen Boden zu achten, schlug Lothar sich einen Weg zu der reglosen Gestalt frei.
Llane …
Der König lag ausgestreckt da, mit dem Gesicht nach unten, aber seine Rüstung war unverkennbar. Er trug keinen Helm, und Anduins Körper verwandelte sich zu Eis, als er den Dolch sah, der aus seinem Hals ragte.
Er selbst hatte diese Klinge für den dreizehnten Geburtstag seiner Schwester anfertigen lassen. Er kannte jede Linie der Gravur. Und er wusste, wem Taria den Dolch in einer Geste des Vertrauens geschenkt hatte.
Er kniete über der Leiche, starrte sie an, nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Seltsamerweise war er in diesem Moment des Verlusts und des Scheiterns, des Verrats und des Leids nur zu einem Gedanken fähig: Warum hast du den Helm abgenommen, Llane? Warum hast du deinen Helm abgenommen?
Er wünschte, sein Herz würde aufhören zu schlagen, damit er neben seinem Bruder sterben könnte, doch es schlug unerbittlich weiter, und Lothar wurde sich wieder seiner Umgebung bewusst. Ein paar Schritte entfernt schrie die Greifin und verteidigte ihn, während er, bis ins Mark schockiert, weiter über der Leiche seines hinterrücks ermordeten Königs kauerte.
Er könnte kämpfen – ein paar Orcs mitnehmen und dann ebenfalls sterben. Doch alles, was er wollte, war, Llane nach Hause zu bringen. Er würde ihn hier nicht liegen lassen, damit lachende Orcs ihn herumreichten wie ein barbarisches Symbol ihres Sieges. Llane würde in Sturmwind seine letzte Ruhe finden. Lothar hatte ihn nicht retten können, also schuldete er ihm zumindest so viel.
Er warf sich die Leiche des Königs mitsamt seiner schweren Rüstung über die Schulter, taumelte kurz unter dem Gewicht und kehrte damit zu der weiterhin kämpfenden Greifin zurück. Die Orcs in seiner Nähe waren so verblüfft über sein Verhalten, dass kein einziger ihn angriff.
„Sturmwind!“, rief er der Greifin zu, während er einen Fuß in den Steigbügel schob und sich auf ihren Rücken hochzog. Mit der Erfahrung eines Tieres, das schon oft einen Reiter getragen hatte, duckte und krümmte sie sich, damit Lothar mit seiner wertvollen Fracht leichter aufsteigen konnte.
Dann stieß sich die Greifin vom Boden ab, nur um danach mit einem heftigen Ruck zum Stillstand zu kommen. Lothar beugte sich vor und blickte direkt in Schwarzfausts furchtbares Gesicht. Der Kriegshäuptling hatte seine verbliebene Hand fest um ein Bein der Greifin geschlungen, und obwohl die Kreatur mit ihren mächtigen Schwingen schlug, zog der Orc sie auf den Boden zurück.
Lothar musste aus dem Sattel gerutscht sein, denn ehe er sichs versah, lag er auf dem Rücken und starrte zu einem Kreis monströser Gesichter hoch. Langsam, unter großen Schmerzen, drehte er den Kopf – gerade noch rechtzeitig, um Llanes Schwert wirbelnd auf sich zufliegen zu sehen. Es bohrte sich keine zwei Schritte von Lothars Nase entfernt in den Staub, und das Glänzen der Klinge im Sonnenlicht blendete den Hauptmann.
Er kämpfte sich auf die Beine, überrascht, dass noch immer keine Meute blutrünstiger Orcs über ihn hergefallen war. Ein einzelnes, gewispertes Wort drang an seine Ohren: Mak’gora.
Sämtliche Krieger traten zurück und schufen so einen Kampfplatz für zwei Duellanten: ihren Kriegshäuptling und Anduin Lothar. Einer der Orcs hielt den Schädel der Greifin unter seinem Arm fest, ein anderer zwang ihren zuckenden Leib auf den Boden. Sie würden ihr nicht wehtun, schließlich konnte sie ihnen noch nützlich sein. Llanes Leiche war ebenfalls vom Rücken des Greifen gerutscht und lag unnatürlich verkrümmt im Staub.
Der Anblick ließ Lothars Zorn wieder hochbrodeln. Er richtete sich auf, und nachdem er die Balance gefunden hatte, starrte er erst die Menge stummer, erwartungsvoller Orcs an und dann Schwarzfaust, der ein paar Meter entfernt auf und ab ging.
Der Kriegshäuptling hielt keine Waffe; er wollte offenbar nur mit seiner metallischen Klauenhand kämpfen – mit den fünf Klingen, die Callan getötet hatten. Lothar atmete tief ein, und der rote Schleier der Mordlust lichtete sich vor seinen Augen. Falls er sterben würde, dann nicht, weil er nicht klar denken konnte.
Langsam zog er das Schwert seines Bruders aus dem Boden, ohne den Blick dabei von Schwarzfaust und seinen grün glühenden Augen zu nehmen. Der Orc stand reglos wie eine Statue, abgesehen von seinem Atem, der seine obszön breite Brust an- und abschwellen ließ. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er dem Kriegshäuptling gegeben hatte – dass er ihn umbringen würde. Ganz gleich, um welchen Preis.
Was immer Lothar jetzt tat, er war so gut wie tot. Garona hatte überschwänglich von der „Ehre“ der Orcs gesprochen; doch diese Ehre schien sie nicht davon abzuhalten, jene zu hintergehen, die ihnen vertrauten, und einem der ehrenvollsten Männer, die Lothar je kennengelernt hatte, ein Messer in den Hals zu rammen. Nein, sie hatten keine Ehre. Sie kannten nur Blutgier und Eroberung und Tod.
Doch zumindest im Moment griffen sie nicht an.
Lothar wechselte seinen Griff um die Waffe. Er musste daran denken, wie oft er dieses Schwert in Llanes Händen gesehen hatte, sei es nun bei Übungskämpfen oder auf dem Schlachtfeld, wo er es gegen Trolle und Aufständische eingesetzt hatte.
Doch nun, im Kampf gegen Orcs, war es seinen Händen entglitten.
Ruhig. Konzentrier dich!
In diesem Moment stürmte Schwarzfaust vor.
Für ein so muskelbepacktes Monster bewegte er sich ungeheuer schnell. Er hob die mächtige Klauenhand, um die sich Fel-Magie herumschlängelte, und stieß seinen Siegesschrei aus, während er nach dem Menschen schlug, der so viel kleiner als er und nur mit einem mickrigen Schwert bewaffnet war.