Sie lächelte und zuckte die Schultern. „Ich kann es … einfach spüren.“
Wieder dachte er an jene erste Nacht und an all die anderen, die sie seitdem miteinander geteilt hatten. Er wollte nicht daran denken, dass sie bald über längere Zeit des Nachts voneinander getrennt sein würden; wollte nicht daran denken, dass sein Sohn geboren werden würde, ohne dass sein Vater dabei zugegen war.
„Kannst du deinen fetten Bauch eigentlich noch verstecken?“, sagte er und grinste in Erwartung ihrer bissigen Erwiderung.
Draka, die ihn in- und auswendig kannte, knuffte ihm die Schulter – zwar liebevoll, aber doch ziemlich kräftig. „Jedenfalls besser, als du deinen riesigen Schädel verstecken kannst.“
Er brach in herzhaftes Gelächter aus, das Balsam für seine Seele war, und sein Weib stimmte in sein Lachen mit ein. Dann lehnten sie sich wieder gemeinsam zurück, und einmal mehr lag Durotans Hand beschützend über ihrem Sohn. Sie würden sich dieser neuen Welt gemeinsam stellen.
Ganz gleich, was auch geschah.
3
Als Draka sich am nächsten Morgen mit Bedacht einen kleinen, kreisrunden, mit Stoßzähnen verzierten Schild über den Bauch schnallte, bemerkte sie Durotans Blick. Er nickte ihr knapp zu, irgendwie erleichtert darüber, dass sie eine Möglichkeit gefunden hatte, ihren geschwollenen Leib zu verbergen und zugleich ihren ungeborenen Sohn zu schützen. Die vergangenen paar Jahre waren so hart gewesen, dass Draka nicht imstande gewesen war, irgendwelches Gewicht zuzulegen, das sie nicht geradewegs an das in ihr wachsende Kind weitergegeben hatte. Sobald ihr Bauch erst einmal bedeckt war, verrieten kein Schwinden ihrer Muskeln und keine Rundlichkeit ihres Gesichts mehr ihre Schwangerschaft. Doch obwohl sich dieser Umstand jetzt als nützlich erwies, verspürte er dennoch einen Stich des Bedauerns, dass sie nicht offen und voller Stolz damit umgehen konnte.
Drek’Thar trug einen Umhang, dessen Kapuze er tief nach unten gezogen hatte, um sein weißes Haar und die Stoffbinde zu verstecken, die sein missgestaltetes Gesicht verbarg. Ein anderer Schamane – Palkar, der den Alten schon seit Jahren pflegte – würde ihn führen. Durotan ging zu den beiden hinüber, während sie sich sammelten und auf den Marschbefehl in Richtung dieses „Lochs im Boden“ warteten.
„Ich kann nicht versprechen, dass man euch nicht entdeckt“, erklärte Durotan ihnen. „Falls ihr es vorzieht, dieses Risiko lieber nicht einzugehen, würde es euch niemand verübeln.“
„Wir haben verstanden“, sagte Drek’Thar. „Alles ist so, wie die Geister es wollen.“
Durotan nickte. Draka hatte sich bereits von Geyah verabschiedet und trat jetzt neben ihn. Durotan legte seiner Mutter die Hände auf die Schultern. „Solange Orgrim und ich fort sind, befehligst du den Clan“, sagte er zu ihr. „Bei niemandem sind die Frostwölfe besser aufgehoben als unter der Obhut der Wissenshüterin.“
Ihre Augen waren trocken, und sie stand stark und aufrecht vor ihm. „Ich werde sie mit meinem Leben schützen, mein Sohn. Und sobald ihr zurückkehrt, werden wir uns euch in diesem neuen, grünen Land mit Freuden anschließen.“
Jedermann wusste, dass es für sie womöglich keine Rückkehr geben würde. So vieles über jenen verheißungsvollen Ort lag im Dunkeln. Sie würden mittels Magie dorthin gelangen, ohne die geringste Ahnung, was sie erwartete, einmal abgesehen von dem, was Gul’dan ihnen erzählt hatte. Was, wenn er sich irrte? Wenn er gelogen hatte? Wenn in dieser Welt so gewaltige Gefahren lauerten, dass nicht einmal ein Orc sie zu bezwingen vermochte? Doch letztlich spielte das alles keine Rolle. So, wie es jetzt war, konnte es nicht weitergehen.
„Ich bin sicher, uns wird rascher Erfolg beschieden sein“, sagte er und hoffte, seine Stimme klang so fest, wie sie klingen sollte.
Hörner wurden geblasen und riefen sie. Durotan umarmte Geyah. Sie hielt ihn einen Moment lang ganz fest, ehe sie ihn freigab und zurücktrat. Durotan ließ den Blick über seinen Clan schweifen, über die Kinder, über die Orcs, über die Frauen und Männer, die Handwerker und Schamanen waren und keine Krieger. Er hatte alles für sie getan, was in seiner Macht stand.
Jetzt war es an der Zeit, herauszufinden, ob man Gul’dans Wort trauen konnte.
Schwarzfausts Orcs übernahmen die Führung, um die Clans zu einem einzigen Strom aus brauner und grüner Haut, funkelndem Stahl und mattweißen Knochen zu vereinen, der sich durch den Staub vorwärtsschob. Und von Neuem staunte Durotan darüber, so viele Orcs beisammen zu sehen, die Schulter an Schulter marschierten, geeint von ihrem gemeinsamen Ziel. Hoffnung regte sich in ihm. Sie waren Orcs! Gab es irgendetwas, das sie nicht vollbringen konnten? Welche Kreaturen sie auch immer erwarten mochten, sie würden unter stampfenden Füßen, klirrenden Waffen und dem Schlachtruf „Lok’tar ogar!“ untergehen.
Er schaute zu Draka hinüber, die ihm ein Grinsen schenkte. Sie umfasste einmal kurz seine Hände und ließ sie dann wieder los. Niemand würdigte sie eines zweiten Blickes. Durotan marschierte mit großen Schritten vorwärts, Donnerschlag in Händen; Spalter hatte er sich auf den Rücken geschnallt.
Einer von Schwarzfausts Orcs lief die Schlange entlang und brüllte Anweisungen. „Haltet euch rechts!“ Durotan und Draka taten, wie geheißen.
Und dann waren sie da.
„Höllschrei hatte recht“, murmelte Durotan. „Das ist nicht einfach bloß ein Loch im Boden.“
Durotans gesamter Clan hätte mühelos in den kleinsten Bruchteil der Fläche gepasst, die hier ausgehoben worden war, und alle hätten sie nebeneinander durch das gewaltige Steingebilde schreiten können, das hier vom Sand verborgen gelegen hatte. Jetzt ragte es vor ihnen auf, groß und eindrucksvoll, gekrönt von einer zusammengerollten, mächtigen, geflügelten Schlange und links und rechts flankiert von jeweils einer aus Stein gemeißelten, mit einer Kapuze bedeckten Statue, jede davon so hoch wie hundert Orcs übereinander. Die rechte Statue und die Säule, aus der sie erschaffen worden war, standen frei in der Wüste. Die linke Seite des Portals indes war noch immer mit der Erde verbunden. Gerüste bedeckten einen Teil des Konstrukts, und Aufzugmechanismen beförderten Orcs hinauf und wieder herunter. Sie sahen nicht größer aus als Flöhe, während sie ihrem Tagwerk nachgingen und selbst jetzt noch unbeirrt weiter an dem großen Portal arbeiteten. Von Anfang an hatte unter den Kriegern kaum etwas geherrscht, das man als Ordnung bezeichnen konnte, und je mehr Kämpfer dieses riesigen, aus Stein gehauenen Bauwerks ansichtig wurden, desto weiter lösten sich ihre Reihen auf. Alle fingen an zu reden. Durotan entging der zornige, abgespannte Ausdruck auf den Gesichtern von Schwarzfausts Orcs nicht, als sie wiederholt Befehle brüllten, die auf taube Ohren stießen. Orcs waren grimmig, wild und stark. Sie gehorchten ihren Clanführern. Doch jetzt hatte der Hauptmann offenkundig Schwierigkeiten, so vieler Individuen Herr zu werden.
„Durotan!“, rief Draka. „Schau!“ Sie deutete auf die oberste Stufe des Portals. Dort stand Gul’dan; seine grüne Haut war unverkennbar. Als Durotan ihn jetzt so sah, schien es ihm, als wäre überhaupt keine Zeit verstrichen, seit Gul’dan das erste Mal zum Frostfeuergrat gekommen war. Er sah genauso aus wie damals und lehnte sich auf seinen mit kleinen Schädeln und Knochensplittern verzierten Stab. Zwar verbarg die Kapuze seines Umhangs teilweise sein zerfurchtes Gesicht, doch selbst auf diese Entfernung konnte Durotan Gul’dans weißen Bart und die unverwechselbaren Augen erkennen, die in kränklichem, phosphoreszierendem Grün glommen. An seinem Umhang waren Stacheln angebracht, auf denen noch mehr winzige Köpfe steckten. Damals wie heute erschauderte Durotan ob der instinktiven Abneigung, die ihn bei Gul’dans Anblick überkam. Er entsann sich Drek’Thars Worte bei ihrer ersten Begegnung mit dem Hexenmeister: Schatten krallen sich an diesen Orc. Tod folgt ihm.