Hinter dem gebeugten Hexenmeister her ging seine Sklavin, das Halbblut Garona, eine übertrieben schwere Kette um ihren schlanken Hals. Auch an sie erinnerte Durotan sich gut. Beide Male, die Gul’dan die beschwerliche Reise nach Norden auf sich genommen hatte, um mit den Frostwölfen zu sprechen, hatte sie ihren Meister begleitet. Beim zweiten Mal gelang es ihr gar, Durotans Clan eine Warnung zukommen zu lassen: Mein Meister ist finster und gefährlich. Für eine Sklavin war ihr Verhalten alles andere als unterwürfig. Tatsächlich hätte Durotan auf den Gedanken kommen können, bei diesem ungleichen Paar sei sie der Meister und nicht der Hexer. Doch dem widersprach die Geringschätzung, die die anderen Orcs ihr entgegenbrachten, sofern sie sich überhaupt dazu herabließen, sie zur Kenntnis zu nehmen.
In diesem Moment fiel ihm auf, dass die beiden an Käfigen aus knorrigen, toten Ästen vorbeigingen. In den Käfigen drängten sich unzählige blauhäutige Gestalten.
Gefangene Draenei.
Eine davon, eine Frau, streckte flehend den Arm aus und ergriff Garonas Hand. Sie sah aus, als würde sie die sonderbare Halborcin um etwas anflehen, doch Garona riss sich aus ihrem Griff los und sprach mit Gul’dan.
„Was haben sie wohl verbrochen?“, fragte sich Draka. Ihre Stimme war durchsetzt von Kummer und Grauen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Orcs, die den blauhäutigen, ziegenfüßigen Draenei für gewöhnlich mit Verachtung begegneten, war sie sogar eine Zeit lang zusammen mit einer Gruppe von ihnen gereist. Sie hatte Durotan berichtet, dass die Draenei keine Feiglinge seien, sondern Auseinandersetzungen einfach nach Möglichkeit aus dem Weg gingen. Dabei wusste Durotan selbst, dass die Draenei Mut besaßen – sie hatten unlängst selbstlos drei Frostwolf-Kinder gerettet und zum Clan zurückgebracht.
Jetzt hatte Gul’dan sie eingesperrt.
„Spielt das eine Rolle?“ Durotan hasste das Kratzen in seiner eigenen Stimme. „Gul’dan schickt uns durch dieses Portal, um anzugreifen, was immer auf der anderen Seite liegt, und dieses Land für uns zu beanspruchen. Wir brauchen dieses Land – und wir brauchen ihn. Deshalb kann er im Augenblick tun und lassen, was immer ihm beliebt.“
Draka warf ihm einen forschenden Blick zu, doch dann schloss sie die Augen. Es hatte keinen Sinn, die hässliche Wahrheit zu leugnen. Ohne Zweifel hatten sich die Draenei nicht das Geringste zuschulden kommen lassen. Durotan wusste, dass einige andere Orcclans sie einfach so zum Vergnügen jagten und töteten. Vielleicht sollte es irgendeine Art von Demonstration geben, bevor Gul’dan den Orcs gestattete, ihren Fuß auf dieses vielgepriesene neue Land zu setzen.
Bruchstückhaft drangen die Rufe der Draenei zu ihm herüber, bloß ein einziges Wort. Durotan verstand ihre Sprache zwar mehr schlecht als recht, doch dieses Wort kannte er.
„Detish!“, schluchzte die Frau, die immer noch flehentlich die Hand hinter Garona herstreckte.
Detish.
Kind.
Durotan und Draka tauschten entsetzte Blicke.
Das Grollen von Donner ertönte. Die Farbe des Himmels hatte sich von Blau zum Gelbgrün eines abklingenden Blutergusses gewandelt. Jetzt säumte eine Linie von hellem Smaragdgrün das Innere des Portals, und am Himmel zuckten grüne Blitze.
„Was ist das?“, fragte Draka.
„Gul’dans Magie“, entgegnete Durotan grimmig. Und noch während er die Worte aussprach, breitete der Hexenmeister seine Arme weit aus und ließ den Blick über seine Armee schweifen.
„Tod. Leben. Tod. Leben. Hört ihr das?“ Er hob eine Hand an sein Ohr, und seine Lippen rings um seine Stoßzähne verzogen sich zu einem Lächeln. „Das Schlagen eines lebendigen Herzens. Die Nahrung meiner Magie ist Leben. Wir haben vielleicht bloß genügend Gefangene, um unsere stärksten Krieger hindurchzuschicken, doch das wird genügen. Der Feind ist schwach. Und sobald wir dort sind, nährt sich meine Magie von ihnen! Wir werden ein neues Portal errichten, und wenn es vollendet ist, führen wir die gesamte Horde hindurch!“
Wieder betrachtete Durotan die gefangenen Draenei. Sein Vater Garad hatte ihm einmal von einer Zeit in seiner Jugend erzählt, als die Frostwölfe das Leben eines Tieres geopfert hatten, um den Geistern für eine gute Jagd zu danken. Gul’dan hatte gesagt, seine Todesmagie funktioniere ähnlich. Ihr labt euch am Fleisch der Kreatur und kleidet euch in sein Fell. Ich labe mich an Stärke und Wissen und kleide mich in … Grün.
Gul’dan drehte sich um, um das Portal zu mustern. Während er seinen schädelgekrönten Stab mit einer knorrigen Hand in die Höhe hielt, breitete er seine Arme aus und bog den Rücken durch. Von überall und nirgends erscholl eine Stimme, die keiner glich, die Durotan je vernommen hatte. Sie war tief und hallte in den Knochen wider, kratzend und rau und durchdringend, und jede Faser seines Leibes verlangte danach, dass Durotan sich die Ohren zuhielt und nicht mehr darauf hörte. Er wehrte sich gegen dieses Verlangen und nahm tiefe Atemzüge, um sich zu sammeln, auch wenn sein Herz raste. Vor Angst? Vor Wut?
Vor Erwartung?
Die gefangenen Draenei zu beiden Seiten des Portals krümmten sich vor Schmerzen, bis sie zum Zerreißen gespannt waren. Durotan verfolgte verblüfft, wie blau-weiße, sich schlängelnde Tentakel aus Nebel von den Gefangenen ausgingen und auf Gul’dan zuschossen. Der Hexenmeister öffnete den Mund, um die nebligen Schlieren einzuatmen, ließ sich von ihnen umwogen und liebkosen.
Die grünhäutigen Orcs in vorderster Reihe schienen rasend zu werden. Sie brüllten und stürmten die Stufen des Portals hinauf. Die Draenei zuckten krampfhaft. Ihre Haut wurde blasser, ihre Leiber schwächer, gebrechlicher – älter. Als von ihnen kaum mehr als leere Hüllen übrig waren, erlosch das strahlend blaue Leuchten in ihren Augen. Der Strom von Lebensenergie, der von ihnen ausging, verebbte, und der grüne Umriss des Portals knisterte und loderte vor Feuer, beinahe erwartungsvoll. Ein gewaltiges Krachen erschütterte die Welt, als von Gul’dans Händen aus eine gleißende Kugel auf das Portal zuschoss und explodierte. Dort, wo man zuvor durch das Portal die Steine und die Erde auf der anderen Seite des Konstrukts ausmachen konnte, leuchtete das Innere des rechteckigen Torwegs jetzt in einem pulsierenden, ungesunden Smaragdgrün. Dann vermischte sich der grüne Wirbel mit anderen Farben: mit dem Blau des Himmels und den üppigen Braun- und Naturtönen von Bäumen.
Ein Ausblick, erkauft mit so vielen Leben. War es das wert, selbst wenn dies das Überleben seines Clans bedeutete?
Die schmerzvolle Antwort lautete … Ja.
„Für die Horde!“, hatte irgendjemand gebrüllt, und nun griffen andere den Ruf auf. „Für die Horde! Für die Horde! Für die Horde!“
Orgrim warf Durotan ein Grinsen zu und stürmte an seinem Häuptling vorbei. Der Singsang hallte in Durotans Ohren wider wie das Pochen seines eigenen Herzens, doch er preschte nicht Hals über Kopf vor wie so viele andere. Stattdessen wandte er sich um, um seine Gefährtin anzusehen. Auf ihren fragenden Blick hin sagte er: „Lass mich vorausgehen.“ Wenn er beim Durchschreiten dieses Portals sterben sollte, würde sein Tod wenigstens als Warnung für seine geliebte Draka dienen.
„Für die Horde! Für die Horde!“
Draka gehorchte ihrem Häuptling und verlangsamte ihre Schritte. Durotan senkte den Kopf, packte Donnerschlag fester und murmelte leise: „Für die Frostwölfe.“ Dann lief er durch das Portal.
Draka blickte finster drein und biss die Zähne zusammen, als ihr Liebster durch den schimmernden, himmelblau-baumgrünen-Durchgang verschwand, um … wohin zu gelangen? Was hatte Durotan sich nur dabei gedacht? Noch mehr Orcs durchquerten das Portal, doch keiner von ihnen kehrte wieder zurück. Und sie konnte nicht darauf warten, dass er zurückkam, um ihr zu sagen, dass alles gut war. Sie musste ihm folgen.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, stieß ein dumpfes, kehliges Knurren aus und marschierte zusammen mit der übrigen brüllenden, schwitzenden Masse von Blutgier angestachelter Krieger vorwärts. Ihren Blick stur geradeaus gerichtet, trat Draka, Tochter von Kelkar, Sohn von Rhakish, durch das Portal.