Ich glaubte, daß er uns von nun an öfter besuchen würde. Aber das fiel ihm gar nicht ein. Er hörte fast auf, zu uns zu kommen. Höchstens einmal im Monat kam er herunter, und jedesmal nur um uns aufzufordern, mit ihm ins Theater zu gehen. So an die zweimal gingen wir mit ihm auch wirklich hin. Dieses Benehmen gefiel mir gar nicht. Ich sah, daß er mit mir einfach Mitleid hatte, weil ich von der Großmutter so behandelt wurde, und sonst nichts. Je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr kränkte es mich; schließlich konnte ich weder lesen, noch arbeiten, noch überhaupt ruhig auf einem Platze sitzen; manchmal lachte ich und stellte irgendwelche Streiche an, über die sich Großmutter ärgern mußte, und manchmal weinte ich. Schließlich kam ich so herunter, daß ich beinahe krank wurde. Die Opernsaison war indessen zu Ende, und der Zimmerherr stellte seine Besuche ganz ein. Und jedesmal, wenn wir uns begegneten – natürlich immer auf der Treppe – grüßte er mich stumm und mit so ernstem Gesicht, als ob er mit mir überhaupt nicht mehr sprechen wollte; und wenn er schon längst aus dem Flur gegangen war, stand ich noch immer da, über und über rot: denn sooft ich ihm begegnete, stieg mir das Blut in den Kopf.
Nun kommt bald das Ende. Genau vor einem Jahr, im Mai, kam er einmal zu uns herunter und erklärte Großmutter, daß er seine Angelegenheiten in Petersburg erledigt hätte und nun für ein Jahr nach Moskau gehen müsse. Als ich das hörte, erblaßte ich und ließ mich beinahe ohnmächtig in einen Stuhl fallen. Großmutter merkte nichts davon, er aber kündigte die Wohnung, verabschiedete sich und ging.
Was sollte ich da tun? Ich dachte lange nach, grämte mich, und faßte mir schließlich ein Herz. Am Abend vor seiner Abreise machte ich, sobald Großmutter eingeschlafen war, den entscheidenden Schritt. Ich band einige Kleider und etwas Wäsche zusammen und ging mit diesem Bündel in der Hand, mehr tot als lebendig zu unserm Zimmerherrn hinauf. Ich glaubte, es dauerte eine ganze Stunde, bis ich die Treppe hinaufgestiegen war. Als ich die Türe zu seinem Zimmer öffnete und er mich sah, schrie er förmlich auf. Er glaubte wohl, ich sei ein Gespenst; dann brachte er mir schnell ein Glas Wasser, denn ich hielt mich kaum auf den Beinen. Mein Herz klopfte so stark, daß mir davon der Kopf weh tat, und meine Gedanken waren ganz wirr. Und als ich zu mir kam, legte ich mein Bündel aufs Bett, setzte mich daneben, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann bitterlich zu weinen. Er hatte wohl alles augenblicklich begriffen! er stand neben mir so bleich und sah mich so traurig an, daß mir das Herz weh tat.
›Hören Sie, Nastenka!‹ begann er: ›ich kann nichts unternehmen, ich bin arm und habe nichts, nicht einmal eine anständige Anstellung. Wie würden wir leben, wenn ich Sie heiratete?‹
Wir sprachen noch lange hin und her, schließlich wurde ich ganz rasend und sagte ihm, daß ich bei Großmutter nicht länger bleiben könne, daß ich von ihr weglaufen würde, daß ich nicht wolle, noch länger an sie mit einer Nadel angesteckt zu sein, und daß ich, ob er will oder nicht, mit ihm nach Moskau gehen würde. Scham und Liebe und Stolz – alles sprach aus mir zugleich. Schließlich fiel ich, wie in Krämpfen, auf das Bett nieder. So sehr fürchtete ich, abgewiesen zu werden!
Er saß einige Minuten schweigend da, erhob sich dann von seinem Platz, ging auf mich zu und nahm mich bei der Hand.
›Hören Sie, meine gute, liebe Nastenka!‹ begann er, gleich mir gegen Tränen kämpfend. ›Hören Sie mich an! Ich schwöre Ihnen: wenn ich einmal in der Lage sein werde, zu heiraten, so werden nur Sie und keine andere mein Glück ausmachen! Hören Sie: ich fahre jetzt nach Moskau und bleibe dort genau ein Jahr. Ich hoffe mir dort eine Lebensstellung zu schaffen. Wenn ich zurückkehre und Sie mich dann noch liebhaben, so werden wir zusammen glücklich werden; das schwöre ich Ihnen! Doch jetzt ist das ganz unmöglich, ich kann und darf Ihnen nichts versprechen. Doch ich sage es noch einmaclass="underline" wenn nicht in einem Jahr, irgendeinmal wird uns das Glück doch noch blühen; selbstverständlich nur dann, wenn Sie mir nicht inzwischen einen andern vorgezogen haben würden; denn ich darf nicht und wage nicht, Sie mit einem Wort zu binden.‹
Das alles sagte er mir und reiste am nächsten Morgen ab. Wir hatten noch gemeinsam beschlossen, Großmutter kein Wort davon zu sagen. Er wollte es so. Nun ist meine Geschichte beinahe zu Ende. Das Jahr ist fast abgelaufen. Er ist zurückgekehrt und seit drei Tagen hier... Und...«
»Und was?« schrie ich beinahe laut auf, neugierig, das Ende zu erfahren.
»Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!« brachte Nastenka mit großer Mühe hervor: »Hat nichts von sich hören lassen...«
Sie hielt eine Weile inne, senkte den Kopf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann so bitter zu schluchzen, daß sich mein Herz zusammenkrampfte.
Ein solches Ende hatte ich wirklich nicht erwartet.
»Nastenka!« begann ich mit leiser, einschmeichelnder Stimme: »Nastenka, um Gottes willen, weinen Sie doch nicht! Woher wissen Sie es? Vielleicht ist er noch gar nicht hier...«
»Er ist hier! Er ist hier!« fiel mir Nastenka erregt ins Wort: »Er ist hier, ich weiß es! Wir hatten es noch damals, am Abend vor seiner Abreise abgemacht. Als wir uns alles gesagt hatten, was ich Ihnen eben wiedererzählte, kamen wir her, an diese Stelle. Es war zehn Uhr abends; wir saßen hier auf dieser Bank; ich weinte nicht mehr, es war mir so süß, seinen Worten zuzuhören... Er sagte, daß er gleich nach seiner Rückkehr zu uns kommen wollte, und wir dann alles der Großmutter erzählen würden, wenn ich mich nur bis dahin von ihm nicht lossagte. Nun ist er zurückgekehrt, ich weiß es ganz bestimmt, und ließ sich bei uns noch immer nicht sehen!«
Und sie brach von neuem in Tränen aus.
»Mein Gott! Kann ich Ihnen denn gar nicht helfen?« rief ich ganz verzweifelt und sprang von der Bank auf. »Sagen Sie, Nastenka: geht es nicht, daß ich ihn aufsuche und mit ihm spreche?«
»Geht denn das?« fragte sie, plötzlich aufhorchend.
»Nein, natürlich geht das nicht!« antwortete ich nach rascher Überlegung. »Aber etwas anderes: schreiben Sie ihm doch einen Brief!«
»Nein, das ist unmöglich, ganz unmöglich!« erwiderte sie sehr entschieden. Sie ließ schon wieder den Kopf sinken und sah mich nicht an.
»Warum unmöglich? Warum ginge das nicht?« fuhr ich fort, krampfhaft an meiner Idee festhaltend. »Wissen Sie, Nastenka, was für einen Brief ich meine? Es gibt Briefe und Briefe... Ach, Nastenka, das wäre wirklich das Beste! Vertrauen Sie sich mir nur an! Ich will Ihnen doch keinen schlechten Rat geben! Das läßt sich wirklich machen! Sie haben ja den ersten Schritt getan, und jetzt auf einmal...«
»Es geht nicht! Es geht nicht! Es würde so aussehen, als ob ich mich ihm aufdrängte...«
»Meine gute Nastenka!« unterbrach ich sie, ohne mein Lächeln zu verbergen. »Es würde gar nicht so aussehen! Denn schließlich sind Sie im Recht, wenn er Ihnen das Versprechen gegeben hat. Ich sehe ja auch aus allem, was Sie mir erzählten, daß er ein durchaus anständiger Mensch ist und sich Ihnen gegenüber durchaus ehrenhaft benommen hat.« Ich war von der Logik meiner eigenen Gründe und Beweise schon ganz hingerissen. »Was hat er getan? Er hat sich durch ein Versprechen gebunden. Er hat doch gesagt, daß er keine andere als Sie nehmen werde, wenn er überhaupt einmal heiratete. Ihnen hat er aber volle Freiheit gelassen, so daß Sie sich von ihm jeden Augenblick lossagen konnten... In diesem Falle dürfen Sie wohl den ersten Schritt tun; Sie sind im Recht und haben den Vorteil, daß Sie ihm, zum Beispiel, sein Wort, mit dem er sich selbst gebunden, zurückgeben können...«
»Sagen Sie, wie würden Sie schreiben?«
»Was schreiben?«
»Nun, den Brief.«
»Ich würde so schreiben: ›Sehr geehrter Herr‹...«
»Muß man mit dieser Anrede anfangen?«
»Unbedingt! Übrigens... Ich glaube...«
»Nun gut! Weiter!«
»›Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, wenn ich...‹ Nein, Sie haben sich gar nicht zu entschuldigen! Die Tatsache selbst entschuldigt Sie. Schreiben Sie einfach so: ›Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine Ungeduld; doch ich lebte ein ganzes Jahr in Hoffnung und war glücklich. Bin ich schuld, daß ich jetzt keinen Tag des Zweifels ertragen kann? Nun sind Sie zurückgekehrt, haben aber vielleicht Ihre Absichten geändert. In diesem Falle soll mein Brief Ihnen sagen, daß ich nicht klage und Ihnen nichts vorwerfe. Ich kann Sie doch nicht dafür verantwortlich machen, daß ich keine Gewalt mehr über Ihr Herz habe; so ist schon einmal mein Schicksal!