»Sie sind zu sehr erregt,« sagte ich, »Sie haben Angst: Sie fürchten, daß er nicht kommt.«
»Was fällt Ihnen ein!« antwortete sie. »Wenn ich jetzt nicht so glücklich wäre, so müßte ich weinen, weil Sie mich mißverstehen und mir Vorwürfe machen! Sie haben mich übrigens auf einen Gedanken gebracht, ich werde darüber später nachdenken... Jetzt will ich nur gestehen, daß Sie vielleicht auch recht haben: Ja, ich bin wirklich ganz aus Rand und Band; ich bin ganz Erwartung und nehme daher alles zu leicht. Genug davon, wollen wir doch nicht mehr von Gefühlen sprechen...«
In diesem Augenblick ließen sich Schritte vernehmen, und in der Dunkelheit zeigte sich eine Gestalt, die sich uns zu nähern schien. Wir beide begannen zu zittern; sie schrie fast auf. Ich ließ ihre Hand aus der meinigen los und machte eine Bewegung, als ob ich mich zurückziehen wollte. Doch wir hatten uns getäuscht: es war nicht er.
»Was fürchten Sie? Warum zogen Sie Ihre Hand zurück?« fragte sie, sie mir wieder gebend. »Was ist denn? Wir wollen ihn doch gemeinsam erwarten? Ich will, daß er sieht, wie wir einander lieben!«
»Wie wir einander lieben!« rief ich aus.
Oh Nastenka, Nastenka! – sagte ich zu mir selbst: – wieviel hast du mir mit diesem Worte gesagt! Vor solcher Liebe erkaltet manchmal das Herz, und die Seele wird matt und traurig. Deine Hand ist kalt, die meinige ist fiebernd heiß. Wie blind du bist, Nastenka! Wie unerträglich ein glücklicher Mensch manchmal sein kann! Doch ich kann dir nicht zürnen!...
Schließlich mußte mein Herz überfließen, und ich rief:
»Hören Sie, Nastenka! Wissen Sie, wie ich den heutigen Tag verbracht habe?«
»Nun wie, wie denn? Erzählen Sie es rasch! Warum haben Sie bisher geschwiegen?«
»Zunächst habe ich also alle Ihre Bestellungen ausgeführt, habe den Brief abgegeben, Ihre Bekannten besucht; und dann... dann ging ich nach Hause und legte mich schlafen.«
»Ist das alles?« unterbrach Sie mich lachend.
»Ja, das ist beinahe alles,« erwiderte ich mit großer Selbstüberwindung, denn törichte Tränen wollten mir in die Augen treten. »Eine Stunde vor dem verabredeten Stelldichein erwachte ich, es war mir aber, als ob ich gar nicht geschlafen hätte. Ich weiß nicht, was mit mir vorging. Ich ging her, um Ihnen das alles zu erzählen; es war mir, als wäre die Zeit stehen geblieben, als müßte eine gewisse Empfindung in mir von nun an ewig dauern, als müßte dieser Augenblick zu einer Ewigkeit erstarren und mein ganzes Leben stille stehen... Als ich erwachte, war es mir, als ob ich mich an eine alte Melodie, die ich einmal irgendwo gehört und nachher vergessen hatte, wieder erinnerte. Es war mir, als ob diese Melodie mein Leben lang aus meiner Seele hinaus wollte, und erst jetzt...«
»Mein Gott!« unterbrach mich Nastenka. »Was wollen Sie damit sagen? Ich verstehe ja kein Wort!«
»Ach Nastenka! Ich wollte ja nur diese seltsame Empfindung wiedergeben...« begann ich mit weinerlicher Stimme, in der noch eine, wenn auch sehr schwache Hoffnung bebte.
»Lassen Sie es! Genug!« fiel sie mir ins Wort. In einem Augenblick hatte sie mich durchschaut, die Schelmin!
Plötzlich wurde sie ungewöhnlich gesprächig, lustig und ausgelassen. Sie nahm meinen Arm, lachte, verlangte von mir, daß auch ich lache und beantwortete jedes verlegene Wort, das ich sprach, mit hellem, nicht enden wollendem Lachen... Ich fing an ärgerlich zu werden; nun kokettierte sie plötzlich:
»Hören Sie einmal,« sagte sie: »eigentlich ärgere ich mich, daß Sie sich in mich nicht verliebt haben. Da soll man sich noch in einem Menschen auskennen! Und doch müssen Sie, mein gestrenger Herr, lobend anerkennen, daß ich mich so einfach gebe. Ich erzähle Ihnen ja alles, sage alles, was mir für Dummheiten auch in den Sinn kommen.«
»Hören Sie? Ich glaube, es schlägt elf!« unterbrach ich sie, als sich von einem fernen Uhrturm abgemessene Glockentöne vernehmen ließen. Sie hielt plötzlich inne, lachte nicht mehr und zählte die Glockenschläge.
»Ja, es ist elf!« sagte sie schließlich mit zaghafter, unsicherer Stimme.
Ich bereute sofort, daß ich sie so erschreckte, indem ich sie die Glockenschläge zählen ließ, und ich verwünschte meinen Anfall von Bosheit. Sie tat mir leid, und ich wußte gar nicht, wie ich mein Vergehen wieder gut machen sollte. Ich begann sie zu trösten und Erklärungen, Gründe und Beweise für sein langes Ausbleiben zu erfinden. Niemand ließe sich leichter betrügen als sie in diesem Augenblick; in ähnlicher Lage ist ja jeder Mensch für Trost empfänglich und froh, wenn man ihm auch nur den Schatten einer Rechtfertigung vorbringt.
»Ihre Aufregung ist wirklich lächerlich,« sagte ich, immer mehr in Ekstase kommend und von der Klarheit meiner eigenen Beweise entzückt: »Er konnte ja heute überhaupt noch nicht kommen; Sie haben auch mich verführt und verwirrt, so daß ich aus jeder Zeitrechnung herausgekommen bin... Bedenken Sie doch selbst: den Brief hat er ja erst eben bekommen; setzen Sie den Fall, daß er aus irgendeinem Grunde nicht kommen konnte und Ihnen auch sofort geschrieben hat, daß er verhindert ist. Diese Antwort kann aber frühestens morgen kommen. Ich will morgen in aller Frühe den Brief abholen gehen und Ihnen dann sofort Nachricht geben. Sie können sich tausend Möglichkeiten denken: zum Beispiel, daß er nicht zu Hause war, als der Brief kam, so daß er ihn noch gar nicht gelesen hat. Es ist ja alles möglich.«
»Ja, ja!« fiel mir Nastenka ins Wort. »Ich habe daran gar nicht gedacht! Es ist ja wirklich alles möglich,« fuhr sie mit nachgiebiger Stimme fort, in der aber, wie ein ärgerlicher Mißton, auch ein anderer entfernter Gedanke zu hören war. »Ich bitte Sie also folgendes zu tun: gehen Sie morgen in aller Frühe hin, und wenn Sie etwas von ihm vorfinden, geben Sie mir sofort Nachricht. Sie wissen ja, wo ich wohne?« Und sie sagte mir noch einmal ihre Adresse.
Dann wurde sie plötzlich so zärtlich, so lieb zu mir... Sie schien aufmerksam allen meinen Worten zu lauschen; doch als ich mich an sie mit irgendeiner Frage wandte, gab sie keine Antwort, wurde verlegen und wandte ihr Köpfchen weg. Ich blickte ihr in die Augen; ich hatte mich nicht getäuscht: sie weinte.
»Wie können Sie nur? Ach was für ein Kind Sie noch sind! Ein kleines Kind!... Hören Sie doch auf!«
Sie versuchte zu lächeln und ruhig zu erscheinen, doch ihr Kinn zitterte noch immer und ihre Brust wogte.
»Ich denke eben über Sie,« sagte sie nach kurzem Schweigen. »Sie sind so gütig, daß ich aus Stein sein müßte, um es nicht zu fühlen. Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf geht? Ich habe Sie beide verglichen. Warum ist er nicht Sie? Warum ist er nicht so wie Sie? Er ist schlechter als Sie, und doch liebe ich ihn mehr.«
Ich sagte darauf nichts. Sie erwartete aber wohl, daß ich etwas sage.
»Es ist allerdings möglich,« sagte sie fortfahrend, »daß ich ihn noch nicht genügend kenne und nicht recht verstehe. Wissen Sie: es ist mir, als hätte ich ihn immer gefürchtet; er war stets so ernst und stolz. Ich weiß natürlich, daß es nur der äußere Eindruck war, und daß in seinem Herzen mehr Zärtlichkeit wohnte als im meinigen... Ich weiß noch, wie er mich ansah, als ich, Sie wissen noch? – mit meinem Bündel zu ihm kam? und doch habe ich etwas zuviel Achtung vor ihm. Und das bedeutet doch, daß wir uns nicht als gleiche gegenüberstehen?«
»Nein, Nastenka,« erwiderte ich, »nein, das bedeutet nur, daß Sie ihn mehr als alles in der Welt lieben und sogar mehr als sich selbst.«
»Gut, nehmen wir an, daß es so ist,« sagte Nastenka ganz naiv: »Wissen Sie, was ich Ihnen noch sagen will? Das bezieht sich gar nicht auf ihn, ich spreche nur so ganz allgemein; ich habe schon oft darüber nachgedacht. Sagen Sie mir, warum sind nicht alle Menschen wie Geschwister zueinander? Warum verheimlicht und verschweigt auch der beste Mensch immer etwas vor dem andern? Warum sagt man nicht ganz offen, was man auf dem Herzen hat, wenn man weiß, daß man nicht in den Wind spricht? So bemüht sich aber jeder Mensch ernster und verschlossener zu erscheinen, als er in Wirklichkeit ist: er glaubt wohl seine Gefühle zu entweihen, wenn er sie gar zu schnell und offen ausspricht...«