»Ja, Nastenka, Sie haben recht! Das hat aber verschiedene Ursachen,« unterbrach ich sie: in diesem Augenblick mußte ich mich selbst mehr als je zusammennehmen, um meine wahren Gefühle zu verbergen.
»Nein, nein!« entgegnete sie tief ergriffen. »Sie zum Beispiel sind doch ganz anders! Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen sagen soll, was ich empfinde; doch ich habe den Eindruck, daß Sie zum Beispiel... jetzt, gerade jetzt, mir ein Opfer bringen.« Sie streifte mich mit einem schüchternen Blick. »Verzeihen Sie, daß ich so spreche: ich bin ein einfaches Mädchen und habe wenig im Leben gesehen; daher kann ich manchmal nicht die richtigen Ausdrücke finden...« Ihre Stimme zitterte von einem verhaltenen Gefühl, doch sie gab sich Mühe zu lächeln. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Ihnen dankbar bin, daß ich Sie verstehe... Möge Ihnen Gott dafür viel Glück geben! Alles, was Sie mir neulich von Ihrem Träumer erzählten, ist gar nicht wahr; ich will viel mehr sagen, daß es mit Ihnen nichts zu tun hat. Sie fangen an zu genesen und sind wirklich schon ein ganz anderer Mensch, als wie Sie sich schilderten. Wenn Sie einmal eine andere liebgewinnen, so mögen Sie mit ihr glücklich werden! Doch der, die Sie lieben werden, brauche ich nichts zu wünschen, denn sie wird mit Ihnen ohnehin glücklich sein. Ich weiß es, weil ich selbst ein Weib bin, und Sie müssen mir glauben, wenn ich so spreche...«
Sie schwieg und drückte mir fest die Hand. Auch ich war so erregt, daß ich kein Wort hervorbringen konnte... So vergingen einige Minuten.
»Heute wird er wohl nicht mehr kommen!« sagte sie schließlich und hob den Kopf. »Es ist zu spät!« »Er wird morgen kommen!« sagte ich bestimmt und überzeugend.
»Jetzt sehe ich selbst,« sagte sie wieder ermutigt, »daß er erst morgen kommen kann. Also auf Wiedersehen morgen! Wenn es morgen regnet, komme ich wahrscheinlich nicht. Doch übermorgen komme ich ganz bestimmt und in jedem Fall; kommen Sie bitte unbedingt her. Ich muß Sie sehen, ich will Ihnen alles erzählen.«
Und später, als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir wieder die Hand und sagte, mich mit klaren Augen anblickend:
»Nun bleiben wir für immer beisammen, nicht wahr?«
Oh, Nastenka, Nastenka, wenn du nur wüßtest, wie einsam ich mich heute fühle!
Als es neun Uhr schlug, konnte ich es trotz des Regens, in meinem Zimmer nicht länger aushalten; ich kleidete mich an und ging hin. Ich bin dort gewesen und war auf unserer Bank gesessen. Ich ging sogar in ihre Nebengasse; doch unterwegs begann ich mich zu schämen: ich kehrte, nur zwei Schritte von ihrem Hause, um, und sah nicht einmal zu ihren Fenstern hinauf. Ich kam nach Hause so traurig, wie ich es noch niemals war. Diese feuchte, langweilige Witterung! Wäre das Wetter besser, so ginge ich wohl die ganze Nacht durch die Straßen...
Doch morgen, morgen! Morgen werde ich von ihr alles erfahren!
Ein Brief kam heute übrigens nicht. Das ist wohl ganz in Ordnung. Sie haben sich doch schon inzwischen gesehen...
Die vierte Nacht
Mein Gott, was für ein Ende! Was für ein Ende!
Als ich um neun Uhr kam, war sie schon da. Ich bemerkte sie schon von weitem: sie stand wie bei unserer ersten Begegnung ans Geländer gelehnt und hörte gar nicht, wie ich mich ihr näherte.
»Nastenka!« rief ich sie an, mit Mühe meine Erregung bezwingend.
Sie wandte sich rasch nach mir um.
»Nun?« fragte sie, »nun? Schneller!«
Ich blickte sie verständnislos an.
»Wo ist denn der Brief? Haben Sie den Brief gebracht?« fragte sie, sich am Geländer festhaltend.
»Nein,« sagte ich, »ich habe gar keinen Brief. Ist er denn noch nicht selbst hier gewesen?«
Sie wurde entsetzlich blaß und sah mich lange unverwandt an. Ich hatte ihr ihre letzte Hoffnung genommen.
»Soll er nur gehen!« brachte sie schließlich mit gebrochener Stimme hervor. »Gott sei mit ihm! Wenn er mich so verläßt.«
Sie senkte die Augen; dann wollte sie sie heben, um mich anzuschauen, konnte es aber nicht. Noch einige Augenblicke kämpfte sie mit ihrer Erregung; schließlich gab sie den Kampf auf, wandte sich weg, stützte sich auf das Geländer und begann zu weinen.
»Weinen Sie nicht! Weinen Sie nicht!« fing ich an, hatte aber nicht die Kraft, fortzufahren, als ich sie in solchem Kummer sah; was hätte ich ihr auch sagen können?
»Versuchen Sie mich nicht zu trösten,« sagte sie, immer noch weinend. »Sprechen Sie nicht von ihm, sagen Sie mir nicht, daß er noch kommen wird, daß er mich gar nicht verlassen hat, so grausam, so unmenschlich, wie er das getan hat. Und warum, warum? War denn etwas in meinem Brief, in jenem unglückseligen Brief, was ihm den Grund dazu geben könnte?«
Tränen erstickten ihre Stimme; das Herz zerriß mir, wie ich sie so sah.
»Oh, wie unmenschlich grausam!« begann sie wieder. »Und keine Zeile, keine einzige Zeile! Wenn er mir wenigstens geschrieben hätte, daß er mich nicht mehr brauche, daß er sich von mir lossage; er läßt mich aber drei Tage warten und schreibt nicht eine einzige Zeile! Wie leicht ist es doch für ihn, ein armes, schutzloses Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld es ist, daß sie ihn liebt! Was ich in diesen drei Tagen alles durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! Wenn ich nur daran denke, daß ich den ersten Schritt machte, als ich damals zu ihm hinaufging, daß ich mich vor ihm so erniedrigte und ihn weinend um ein wenig Liebe anflehte... Und jetzt...« Sie wandte ihr Gesicht mir wieder zu, und ihre schwarzen Augen leuchteten: »Es ist doch nicht so! Es kann nicht sein! Das wäre unnatürlich! Entweder Sie haben sich getäuscht, oder ich; vielleicht hat er meinen Brief gar nicht bekommen? Vielleicht weiß er bis jetzt von nichts? Wie kann man denn, – urteilen Sie selbst, sagen Sie es mir, denn ich verstehe es einfach nicht! – wie kann man denn an einem Menschen so barbarisch roh handeln, wie er an mir? Nicht eine Zeile! Man hat doch mit dem verworfensten Menschen auf der Welt mehr Mitleid, als er mit mir! Vielleicht hat er etwas über mich gehört, vielleicht hat mich jemand vor ihm verleumdet?« Die letzten Worte schrie sie beinahe. »Nun, was glauben Sie?«
»Hören Sie, Nastenka, ich will morgen zu ihm gehen und mit ihm in Ihrem Namen sprechen.«
»Nun, und?«
»Und ich werde ihn ausfragen und ihm alles erzählen.«
»Und weiter?«
»Schreiben Sie einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nastenka! Sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er wird alles erfahren, und wenn...«
»Nein, mein Freund, nein!« unterbrach sie mich. »Es ist genug! Er bekommt kein Wort von mir zu hören, nicht eine halbe Zeile, es ist genug! Ich kenne ihn nicht, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ver-ges-sen...«
Sie kam nicht weiter.
»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich her, Nastenka!« Ich nötigte sie zum Sitzen.
»Ich bin ja ruhig. Was denken Sie? Das war eben nur so... Die Tränen trocknen ja bald. Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich zugrunde richten will, daß ich ins Wasser gehe?...«
Mein Herz war übervoll. Ich wollte ihr etwas sagen, konnte aber kein Wort hervorbringen.
»Hören Sie doch!« fuhr sie fort, meine Hand ergreifend. »Sagen Sie: Sie würden doch nicht so handeln? Sie hätten doch die, die als erste zu Ihnen kam, nicht so schmählich verlassen und nicht so schamlos über ihr schwaches, törichtes Herz gelacht?! Sie hätten sie doch geschont? Sie hätten doch daran gedacht, daß sie so einsam war, daß sie sich nicht beherrschen konnte und sich vor ihrer Liebe zu Ihnen nicht in acht zu nehmen verstand, daß sie ganz schuldlos war... und nichts verbrochen hat... Ach mein Gott, mein Gott...«
»Nastenka!« schrie ich auf, denn ich konnte meine Erregung nicht mehr bemeistern. »Nastenka! Sie martern mich ja! Sie verwunden mein Herz, Sie morden mich! Nastenka, ich kann nicht länger schweigen! Ich muß endlich sprechen und alles sagen, was sich aus meinem Herzen drängt!«