»Eben weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auf, morgen herzukommen,« sagte das Mädchen lächelnd. »Ich kenne Sie vollkommen. Eine Bedingung muß ich Ihnen doch stellen: (ich bitte Sie sehr, sie einzuhalten; Sie sehen ja, daß ich ganz offen spreche) – verlieben Sie sich nicht in mich!... Das dürfen Sie nicht, ich versichere Sie! Zur Freundschaft bin ich bereit, hier haben Sie meine Hand... Aber sich in mich verlieben, das dürfen Sie nicht, ich bitte Sie darum!«
»Ich schwöre es Ihnen!« rief ich und ergriff ihr Händchen.
»Ach, schwören Sie lieber nicht! Ich weiß ja, daß Sie wie Schießpulver explodieren können. Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich mit Ihnen so spreche. Wenn Sie nur wüßten... Auch ich habe niemanden, mit dem ich sprechen, den ich um Rat bitten könnte. Allerdings: auf der Straße sucht man keine Ratgeber; doch Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie so gut, als ob wir seit zwanzig Jahren befreundet wären... Ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr?...«
»Sie werden sehen... Ich weiß gar nicht, wie ich diesen einen Tag der Erwartung überlebe.«
»Schlafen Sie wohl, gute Nacht! Und denken Sie daran, daß ich mich Ihnen schon anvertraut habe. Sie haben es vorhin so schön gesagt: man kann wirklich nicht über jede Regung des Herzens oder gar über sein brüderliches Mitgefühl Rechenschaft abgeben! Wissen Sie, das war so schön gesagt, daß mir gleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen...«
»Um Gottes willen! Was wollen Sie mir denn anvertrauen? Was?«
»Das sage ich Ihnen morgen. Vorerst soll es noch mein Geheimnis bleiben. Das ist auch für Sie besser: so wird es wenigstens entfernt einem Roman gleichen. Vielleicht werde ich es Ihnen morgen sagen, vielleicht auch nicht... Ich will mit Ihnen noch etwas sprechen... Wir müssen uns noch näher kennenlernen...«
»Ich bin bereit, Ihnen morgen alles von mir zu erzählen! Aber was ist denn das? Ich erlebe ein Wunder... Mein Gott, wo bin ich? Nun sagen Sie mir: machen Sie sich vielleicht Vorwürfe, weil Sie mir vorhin nicht böse wurden und mich nicht abwiesen, wie es wohl jede andere getan hätte? Es waren nur zwei Minuten, und Sie haben mich für immer glücklich gemacht. Jawohl! glücklich! Wer weiß: vielleicht haben Sie mich mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel gelöst... Vielleicht habe ich Augenblicke... Nun, ich werde Ihnen ja alles erzählen, Sie sollen alles erfahren...«
»Schön, ich nehme Ihren Vorschlag an. Sie werden also den Anfang machen...«
»Einverstanden!«
»Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!«
Wir trennten uns. Ich irrte noch die ganze Nacht durch die Straßen; ich konnte mich nicht entschließen, nach Hause zu gehen. Ich war so glücklich... also morgen!
Die zweite Nacht
»Nun haben Sie es doch erlebt!« sagte sie lachend und mir beide Hände reichend.
»Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen gar nicht, wie mir heute den ganzen Tag zumute war.«
»Ich weiß es, ich weiß es. Doch zur Sache. Wissen Sie, wozu ich hergekommen bin? Doch nicht um Unsinn zu schwatzen, wie gestern. Hören Sie: wir müssen in Zukunft vernünftiger sein. Ich habe darüber gestern noch lange nachgedacht.«
»Worin sollen wir denn vernünftiger sein? Ich meinerseits bin ja zu allem bereit; doch ich habe in meinem ganzen Leben wirklich nichts Vernünftigeres erlebt, als das, was ich jetzt erlebe.«
»Ist es wahr? Erstens muß ich Sie bitten, mir nicht so fest die Hände zu drücken; zweitens erkläre ich Ihnen, daß ich heute viel über Sie nachgedacht habe.«
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Zu welchem Ergebnis? Nun, daß wir alles von vorne anfangen müssen, denn ich habe heute schließlich eingesehen, daß ich Sie noch gar nicht kenne, daß ich mich gestern wie ein Kind, wie ein kleines Mädchen benommen habe; zuletzt sagte ich mir, daß an allem nur mein gutes Herz schuld sei, d.h. ich lobte mich, was auch immer herauskommt, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft abgeben wollen. Und um diesen Fehler gutzumachen, habe ich beschlossen, mich über Sie sehr eingehend zu erkundigen. Da ich mich aber über Sie bei niemandem erkundigen kann, so müssen Sie mir selbst alles erzählen, die reine Wahrheit. Was sind Sie also für ein Mensch? Fangen Sie doch gleich an, erzählen Sie mir Ihre Geschichte!«
»Meine Geschichte!« rief ich erschrocken aus, »Meine Geschichte! Wer hat Ihnen gesagt, daß ich überhaupt eine Geschichte habe? Ich habe nämlich gar keine Geschichte...«
»Wie lebten Sie denn, wenn Sie keine Geschichte haben?« unterbrach Sie mich lachend.
»Ganz ohne Geschichte! Ich lebte so ganz für mich, das heißt, ganz allein. Wissen Sie, was allein heißt?«
»Was verstehen Sie unter ›allein‹? Sind Sie denn niemals mit Menschen zusammengekommen?«
»Das nicht! Gewiß komme ich mit Menschen zusammen und doch bin ich allein...«
»Nun, sprechen Sie denn mit niemand?«
»Eigentlich mit niemand.«
»Wer sind Sie denn? Erklären Sie es mir! Doch warten Sie, ich glaube, ich kann es selbst erraten: Sie haben wohl eine Großmutter wie ich. Sie ist blind, läßt mich ihr ganzes Leben lang nicht von ihrer Seite, so daß ich beinahe zu sprechen verlernt habe. Und als ich vor zwei Jahren einen üblen Streich anstellte, und sie einsah, daß sie mich nicht anders festhalten konnte, rief sie mich einmal zu sich heran und befestigte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige. So sitzen wir nun seither tagelang nebeneinander; sie strickt, obwohl sie blind ist, einen Strumpf, und ich muß brav an ihrer Seite sitzen, nähen, oder ihr etwas vorlesen, – es ist so seltsam: seit zwei Jahren lebe ich an die Großmutter angesteckt...«
»Mein Gott, wie traurig! Doch ich, nein, ich habe keine solche Großmutter.«
»Wenn Sie keine haben, wie können Sie dann immer zu Hause sitzen?«
»Hören Sie: Sie wollten doch wissen, wer ich bin?«
»Ja, gewiß?«
»Im eigentlichsten Sinne des Wortes?«
»Ja!«
»Also bitte: ich bin ein Typ.«
»Ein Typ? Was für ein Typ?« rief das Mädchen aus und lachte so, als ob sie ein ganzes Jahr keine Gelegenheit zum Lachen gehabt hätte. »In Ihrer Gesellschaft ist es wirklich lustig! Schauen Sie: hier ist eine Bank; wollen wir uns setzen. Hier kommt kein Mensch vorbei, niemand wird uns hören, also können Sie mir Ihre Geschichte erzählen! Sie werden mir nichts vormachen: natürlich haben Sie eine Geschichte, Sie verheimlichen sie nur. Sagen Sie mir vor allen Dingen: was ist ein Typ?«
»Ein Typ? Ein Typ ist ein Sonderling, ein lächerlicher Mensch,« sagte ich und begann, von ihrem kindlichen Lachen angesteckt, gleichfalls zu lachen. »Das ist so ein Charakter. Hören Sie einmaclass="underline" wissen Sie, was ein Träumer ist?«
»Ein Träumer?! Wie sollte ich das nicht wissen? Auch ich bin eine Träumerin! Wenn ich so neben meiner Großmutter sitze, kommt mir doch alles Mögliche in den Sinn. Und so fange ich an zu träumen, und wenn ich schon einmal im Zuge bin, so kann es auch vorkommen, daß ich in meinen Gedanken den Kaiser von China heirate... Manchmal ist es sehr schön zu träumen! Übrigens nein, – ich weiß wirklich nicht... Besonders wenn man auch an andere Dinge denken muß...« fügte das Mädchen ziemlich ernst hinzu.
»Vortrefflich! Wenn Sie schon einmal so weit waren, daß Sie den Kaiser von China heirateten, so werden Sie auch mich verstehen. Also hören Sie zu... Erlauben Sie übrigens: ich weiß ja noch gar nicht, wie Sie heißen!«
»Endlich fällt’s Ihnen ein, danach zu fragen! Früh genug!«
»Ach mein Gott! Früher dachte ich gar nicht daran, ich fühlte mich auch so schon glücklich...«
»Ich heiße Nastenka.«
»Nastenka! Und weiter?«
»Nichts weiter! Ist es Ihnen zu wenig? Sie sind wirklich unersättlich!«
»Ob es mir zu wenig ist? Im Gegenteiclass="underline" es ist viel, sehr viel! Sie sind wirklich ein gutes Mädchen, Nastenka, wenn Sie sich gleich zu Beginn mit dem Kosenamen Nastenka vorstellen.«