Ich hielt nach all den pathetischen Phrasen ebenso pathetisch inne. Ich weiß noch, daß ich große Lust hatte, in ein schallendes Gelächter auszubrechen, denn ich fühlte schon, wie sich in mir ein übermütiger Teufel regte, wie mir ein Zucken durch Hals und Kinn ging und meine Augen feucht wurden...
Ich erwartete, daß Nastenka, die mir, ihre klugen Augen weit geöffnet, zuhörte, in ein kindliches, unbändig lustiges Lachen ausbrechen würde, und ich machte mir schon Vorwürfe, daß ich zu weit gegangen sei, daß ich ihr unnötigerweise etwas erzählt hätte, was ich als längst gefälltes Urteil über mich selbst schon lange auf dem Herzen herumgetragen und daher so fließend zu erzählen verstand; allerdings hatte ich nicht erwartet, daß sie mich verstehen würde. Doch zu meinem Erstaunen schwieg sie zunächst eine Weile, drückte mir dann die Hand und fragte mit einer eigentümlich schüchternen Teilnahme:
»Haben Sie denn wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?«
»Ja, mein ganzes Leben, Nastenka,« antwortete ich. »Mein ganzes Leben, und ich glaube, daß es bis an mein Ende so bleiben wird.«
»Nein, das soll nicht sein!« sagte sie erregt. »Das darf nicht geschehen! So werde vielleicht auch ich mein ganzes Leben neben der Großmutter verbringen. Hören Sie, wissen Sie denn nicht, daß es gar nicht gut ist, so zu leben?«
»Ich weiß es, Nastenka, ich weiß es!« rief ich, meinem Gefühle freien Lauf lassend, »Und gerade jetzt weiß ich besser als je, daß ich meine schönsten Jahre ganz nutzlos verschwendet habe! Jetzt weiß ich es, und diese Erkenntnis tut mir weh, weil Gott selbst mir Sie als einen guten Engel gesandt hat, um es mir zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben Ihnen sitze und mit Ihnen spreche, ist es mir schwer, an die Zukunft zu denken, denn in der Zukunft erwartet mich wieder Einsamkeit und dieses dumpfe, überflüssige zwecklose Leben; und was werde ich überhaupt noch träumen können, nachdem ich schon im Wachen und in Wirklichkeit an Ihrer Seite so glücklich gewesen bin?! O, seien Sie gesegnet, Sie liebes, gutes Mädchen, weil Sie mich nicht gleich am Anfang abgewiesen haben, weil ich dank Ihnen sagen darf, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem Leben wirklich gelebt habe!«
»Ach nein, nein!« rief Nastenka aus, und Tränen erglänzten in ihren Augen. »Nein, so darf es nicht weiter gehen! Wir dürfen nicht so auseinandergehen! Was sind zwei Abende?!«
»Ach, Nastenka, Nastenka! Wissen Sie denn, daß Sie mich für lange Zeit mit mir selbst versöhnt haben? Daß ich über mich niemals mehr so schlecht denken werde wie bisher? Daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber grämen werde, aus meinem Leben ein Verbrechen und eine Sünde gemacht zu haben, – denn ein solches Leben ist Verbrechen und Sünde! Glauben Sie nur nicht, daß ich irgend etwas übertrieben habe, um Gottes willen, glauben Sie nur das nicht, Nastenka! Weil es Augenblicke gibt, wo mich solcher Gram, so unbeschreiblicher Gram verzehrt... Weil es mir in solchen Augenblicken vorkommt, daß ich nicht mehr fähig sei, ein wirkliches Leben zu leben; weil ich schon oft glaubte, jeden Takt, jeden Sinn für das wahre, wirkliche Leben verloren zu haben; weil ich mich oft verdammt habe; weil nach meinen phantastischen Nächten Augenblicke der Ernüchterung kommen, die wahrhaft schrecklich sind! Und dabei muß ich hören, wie rings um mich die Menschen toben und sich im Strudel des Lebens drehen; muß hören und sehen, wie Menschen leben, wie sie ein wirkliches, greifbares Leben leben, daß ihnen das Leben offen steht, daß es ihnen nicht wie ein Traumgesicht entschwebt, daß es sich ewig aus sich selbst erneut und verjüngt, daß keine Stunde dieses Lebens einer andern gleicht, – während meine scheue Phantasie so schal und eintönig ist, Sklavin eines Schattens, einer Idee, der ersten besten Wolke, die plötzlich die Sonne verdeckt und das Herz mit Wehmut erfüllt, das echte Petersburger Herz, dem seine Sonne soviel bedeutet, – und was wird erst aus der Phantasie, wenn mich einmal Wehmut erfüllt! – Ich fühle, wie sie schließlich ermattet, wie sich die ›unerschöpfliche‹ erschöpft; denn man wächst ja innerlich, und die alten Ideale werden einem zu eng: sie zerfallen in Staub und Trümmer. Und wenn man kein anderes Leben hat, so muß man es eben aus diesen selben Trümmern bauen. Doch die Seele sehnt sich nach etwas anderem! Vergebens wühlt der Träumer wie in Schutt in seinen alten Träumen und sucht in ihrer Asche nach einem wenn auch noch so schwachen Fünkchen, um es anzufachen und mit dem neu entzündeten Feuer sein erkaltetes Herz zu erwärmen, um in ihm alles wiederzuerwecken, was ihm einst so teuer war, was die Seele rührte, das Blut in Wallung brachte, Tränen in die Augen trieb und so wunderbar trügte! Wissen Sie, Nastenka, wo ich angelangt bin? Wissen Sie, daß ich bereits Jahrestage meiner Empfindungen feiern muß, Gedenktage dessen, was mir einst so lieb war und was in Wirklichkeit niemals existierte, – meine Gedächtnisfeiern beziehen sich doch immer auf die gleichen einfältigen, wesenlosen Träume – und daß ich das tun muß, weil ich selbst diese einfältigen Träume nicht mehr habe, weil ich nichts habe, womit ich sie nähren kann, denn auch Träume müssen genährt werden? Wissen Sie, daß ich jetzt gern an bestimmten Tagen jene Stellen aufsuche, wo ich einst auf eine eigene Weise glücklich gewesen bin, daß ich meine Gegenwart oft auf das unwiederbringlich Vergangene abstimme und ganz ohne Not und Ziel, traurig und vergrämt durch die Petersburger Straßen und Gassen irre? Und was sind das auch für Erinnerungen! Da erinnere ich mich zum Beispiel, daß ich genau vor einem Jahr, an diesem selben Tag und zu dieser selben Stunde auf diesem selben Trottoir ebenso einsam und traurig gegangen bin wie heute! Ich erinnere mich, daß meine Gedanken auch damals schon traurig waren; und wenn ich sogar weiß, daß ich es auch damals nicht besser hatte, so kommt mir doch vor, als wäre mein Leben damals besser und ruhiger gewesen, als hätte ich damals weder die düsteren Gedanken gekannt, die mich jetzt verfolgen, noch die schmerzhaften Gewissensbisse, die mir jetzt Tag und Nacht keine Ruhe geben. Und zuweilen muß ich mich fragen: Wo sind denn deine Träume? Und ich schüttele den Kopf und sage: Wie schnell vergeht doch die Zeit! Und dann frage ich mich wieder: Was hast du mit deinen Jahren gemacht? Wo hast du deine beste Zeit begraben? Hast du gelebt oder nicht? Sieh nur, sag ich zu mir selbst, wie kalt es in der Welt wird! Noch einige Jahre, und dann kommt die traurigste Einsamkeit, kommt mit der Krücke das zitterige Alter, und mit ihnen Gram und Leid. Deine phantastische Welt wird verblassen, deine Träume werden absterben, verwelken und abfallen wie das gelbe Laub von den Ästen... Ach Nastenka! Es ist so traurig, allein, ganz allein zu bleiben und nicht einmal etwas zu haben, was man beweinen könnte, nichts, gar nichts!... Denn alles, was man verloren hat, war eigentlich nichts, eine absolute Null, ein Hirngespinst!«