»Genug! Sie verwunden mir mit Ihren Reden das Herz!« sagte Nastenka, sich Tränen aus den Augen wischend. »Nun ist es damit zu Ende! Jetzt werden wir zusammen sein; was mir auch das Schicksal bringt, wir trennen uns nicht mehr. Hören Sie einmal. Ich bin ein einfaches Mädchen und habe, obwohl Großmutter für mich einen Lehrer hielt, wenig gelernt; doch ich verstehe Sie, denn ich habe alles, was Sie mir erzählten, auch selbst erlebt, seit mich Großmutter an ihr Kleid angesteckt hat. Natürlich könnte ich es nicht so schön erzählen wie Sie, ich habe zu wenig gelernt,« fügte sie unsicher hinzu, denn sie stand noch immer unter dem Eindruck meiner pathetischen Rede und meines hochtrabenden Stils: »doch es freut mich, daß Sie mir alles anvertraut haben. Jetzt kenne ich Sie durch und durch. Wissen Sie was? Nun will ich Ihnen meine Geschichte ebenso offen erzählen, ohne etwas zu verheimlichen, wie Sie mir; und Sie werden mir nachher einen Rat geben. Sie sind ja klug; wollen Sie versprechen, mir diesen Rat zu geben?«
»Ach, Nastenka!« erwiderte ich, »ich bin zwar noch nie Ratgeber gewesen und noch weniger – kluger Ratgeber, doch jetzt sehe ich, daß es sehr klug wäre, wenn wir immer so leben würden, und daß dann ein jeder von uns dem andern viele kluge Ratschläge erteilen könnte! Worin brauchen Sie nun meinen Rat, reizende Nastenka? Sprechen Sie ganz offen; ich bin jetzt so froh, glücklich, kühn und klug, daß mir das Ratgeben wohl keine Schwierigkeiten machen wird.«
»Nein, nein!« unterbrach mich Nastenka lachend: »Ich brauche nicht nur einen klugen, sondern auch einen herzlichen, brüderlich teilnehmenden Rat... als ob Sie mich Ihr ganzes Leben lang geliebt hätten...«
»Gut, Nastenka, abgemacht!« rief ich entzückt: »Und wenn ich Sie auch schon seit zwanzig Jahren geliebt hätte, meine Liebe zu Ihnen könnte gar nicht größer sein, als sie es schon jetzt ist!«
»Geben Sie mir Ihre Hand!« sagte Nastenka.
»Hier ist sie!« Ich gab ihr meine Hand.
»Nun wollen wir mit meiner Geschichte beginnen!«
Nastenkas Geschichte.
»Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie bereits: nämlich, daß ich eine alte Großmutter habe...«
»Wenn auch die andere Hälfte ebenso kurz ist wie diese,« unterbrach ich sie lachend.
»Schweigen Sie und hören Sie zu. Doch zuvor eine Bedingung: Sie dürfen mich nicht unterbrechen, sonst komme ich aus dem Konzept. Hören Sie also ruhig zu.
Ich habe eine alte Großmutter. Ich kam zu ihr schon als kleines Kind, denn ich habe beide Eltern früh verloren. Ich glaube, daß Großmutter früher einmal reicher war, denn sie gedenkt noch jetzt öfters besserer Tage. Die gleiche Großmutter hat mich Französisch gelehrt und mir später einen Lehrer genommen. Als ich fünfzehn Jahre alt war (und jetzt bin ich siebzehn), nahm der Unterricht ein Ende. Um jene Zeit stellte ich auch einen Streich an; was es für ein Streich war, will ich Ihnen nicht sagen; es soll Ihnen genügen, wenn ich sage, daß es nichts Schlimmes war. Nun rief mich Großmutter eines Morgens zu sich und sagte, daß sie, da sie blind sei, auf mich nicht aufpassen könne; und sie nahm eine Nadel, heftete mein Kleid an das ihrige an und sagte, daß wir nun unser Leben lang so nebeneinander sitzen würden, vorausgesetzt, daß ich mich nicht besserte. Mit einem Worte, ich konnte in der ersten Zeit wirklich nicht von Großmutters Seite weichen: arbeiten, lesen, lernen, alles mußte ich in diesem Zustande. Einmal versuchte ich, Großmutter anzuführen, und überredete Fjokla, sich auf meinen Platz zu setzen. Fjokla ist unsere Dienstmagd; sie ist fast taub. Fjokla setzte sich also an meine Stelle; Großmutter war gerade in ihrem Lehnsessel eingeschlummert, und ich ging eine Freundin besuchen. Die Sache endete aber schlecht. In meiner Abwesenheit wachte Großmutter auf und fragte mich irgend etwas, denn sie glaubte natürlich, daß ich noch neben ihr sitze. Fjokla sah, daß Großmutter etwas fragte, konnte aber nichts hören; sie überlegte sich eine Weile, was sie tun sollte, nahm schließlich die Stecknadel heraus und lief davon...«
Nastenka machte hier eine Pause und begann zu lachen. Auch ich mußte lachen. Dann hörte sie aber gleich auf.
»Hören Sie, Sie sollen über meine Großmutter nicht lachen. Ich lache nur, weil es so komisch war... Was soll ich machen, wenn Großmutter einmal so ist; ein wenig liebe ich sie aber trotzdem. Nun, ich wurde von ihr tüchtig ausgeschimpft, mußte mich wieder auf meinen Platz setzen und konnte mich seitdem wirklich nicht mehr rühren.
Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß wir, das heißt Großmutter ein eigenes Haus hat, vielmehr ein Häuschen, mit nur drei Fenstern; es ist ganz aus Holz und ebenso alt wie die Großmutter. Und oben ist noch eine Mansarde. In diese Mansarde zog also ein neuer Zimmerherr ein...«
»Folglich hat es auch einen alten Zimmerherrn gegeben?« bemerkte ich so nebenbei.
»Gewiß hat es einen gegeben,« antwortete Nastenka, »und der verstand besser zu schweigen als Sie. Er konnte allerdings kaum die Zunge bewegen. Es war ein ausgetrocknetes, stummes, blindes und lahmes altes Männchen, so alt, daß es schließlich nicht mehr leben konnte und sterben mußte. Also mußten wir einen neuen Zimmerherrn haben: ohne einen Mieter können wir nämlich nicht auskommen, denn die Miete ist neben Großmutters Pension unser ganzes Einkommen. Der neue Zimmerherr war ausgerechnet ein junger Mann, ein Fremder, aus der Provinz zugereist. Da er keinen Versuch machte, von der Miete etwas abzuhandeln, nahm ihn Großmutter auf. Doch später fragte sie mich: ›Sag einmal, Nastenka, ist der neue Zimmerherr jung oder alt?‹ Ich wollte nicht lügen und sagte: ›Man kann nicht sagen, daß er sehr jung sei, er ist aber auch nicht sehr alt.‹