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Ich, dessen einziger Kummer war, fern von menschlicher Gesellschaft verbannt zu sein, einsam vom grenzenlosen Ozean umgeben, von aller Welt abgeschlossen und verdammt zu einem stummen Leben … ich zitterte nun bei der Vorstellung, einen Menschen zu sehen, und wollte in die Erde sinken vor dem bloßen Schatten oder Schein, dass ein Mensch seinen Fußstapfen auf diese Insel gesetzt habe!

Nirgends ist Defoes Psychologie feiner als in seiner Vorstellung von Robinsons Reaktion auf das Aufbrechen seiner Einsamkeit. Defoe hat uns das erste realistische Porträt eines radikal isolierten Individuums geschenkt, und dann hat er uns gezeigt, wie krank und verrückt ein radikaler Individualismus eigentlich ist. Egal wie sorgsam wir uns abschirmen, es braucht nur den Fußabdruck eines anderen wirklichen Menschen, um uns an das unendlich interessante Wagnis einer lebendigen Beziehung zu erinnern. Selbst Facebook, dessen Nutzer Milliarden Stunden mit der Herrichtung ihrer selbstbezogenen Projektionen verbringen, hat einen ontologischen Notausgang, und zwar unter «Beziehungsstatus», wo sich bei den Optionen die Wendung «Es ist kompliziert» findet. Es mag sich dabei um einen Euphemismus für «auf dem Absprung» handeln, aber es ist zugleich eine Beschreibung aller anderen Optionen. Solange wir solche Komplikationen haben — wie können wir es wagen, gelangweilt zu sein?

(Übersetzt von Wieland Freund)

Die tollste Familie, von der je erzählt wurde

Über Der Mann, der seine Kinder liebte

von Christina Stead

Es gibt jede Menge Gründe, warum Sie Der Mann, der seine Kinder liebte nicht lesen sollten. Zunächst einmal ist es ein Roman; und sind wir nicht in den vergangenen ein, zwei Jahren alle quasi zu der heimlichen Übereinkunft gelangt, dass Romane in die Ära der Zeitungen gehören und auch den Weg aller Zeitungen gehen, nur schneller? Wie ein alter Freund von mir, seines Zeichens Englischprofessor, gerne sagt, hat es mit Romanen eine eigenartige moralische Bewandtnis, plagt uns doch das schlechte Gewissen, wenn wir nicht mehr von ihnen lesen, aber auch, wenn wir so frivol sind, es überhaupt zu tun; und wären wir nicht alle froh um die eine Sache weniger, die uns ein schlechtes Gewissen bereitet?

Der Mann, der seine Kinder liebte zu lesen wäre nun ein besonders frivoler Zeitvertreib, weil es darin selbst nach Roman-Maßstäben um nichts weltgeschichtlich Bedeutendes geht. Vielmehr handelt das Buch von einer Familie, einer außergewöhnlichen und sehr seltsamen noch dazu, und die wenigen Passagen, die nicht von ihr handeln, sind die uninteressantesten. Der Roman ist außerdem ziemlich lang, bisweilen redundant und in der Mitte unbestreitbar zäh. Überdies kommt man nicht umhin, den Familienjargon lesen zu lernen, ein vom titelgebenden Vater erdachtes und verordnetes Idiom, und obwohl die Lernkurve nicht annähernd so steil ist wie bei Joyce oder Faulkner, wird man doch im Grunde aufgefordert, sich eine Sprache anzueignen, die ausschließlich dazu taugt, Vergnügen an diesem einen Buch zu finden.

Schon das Wort Vergnügen: Trifft es überhaupt zu? Auch wenn die Qualität der Prosa von gut bis fabelhaft reicht — im wahrsten Sinne lyrisch ist, denn jede Beobachtung und Beschreibung strotzt von Gefühl, Bedeutung, Subjektivität — und der Handlungsaufbau diskrete Meisterschaft beweist, operiert das Buch auf einer Stufe seelischer Gewalt, gegen die sich Zeiten des Aufruhrs wie Alle lieben Raymond ausnimmt. Schlimmer noch: Es macht sich permanent über diese Gewalt lustig! Wer hat es nötig, so etwas zu lesen? Ist nicht die Kernfamilie, zumindest ihre seelisch gewalttätige Seite, gerade das, wovor wir alle zu fliehen versuchen — der höllische Reaktor, in den wir als Schüler, wenn tatsächliche Flucht nicht in Frage kommt, die Graphitstäbe unserer (neuen) Spielereien und Zerstreuungen und Nachmittagsbeschäftigungen zu stecken gelernt haben, um die Reaktion zu kühlen? Der Mann, der seine Kinder liebte ist rückschrittlich genug, ein Verhalten, das wir «Misshandlung» nennen würden, als ein natürliches Merkmal der familiären Landschaft hinzustellen, noch dazu als ein potenziell komisches, und eine Kluft zwischen Erwachsenen und Kindern zu postulieren, die über deren unterschiedliche Konsumvorlieben weit hinausgeht. Das Buch drängt sich in unsere besser geordnete Welt wie ein böser Traum aus der großelterlichen Vergangenheit. Seine Auffassung von einem guten Ausgang ist in der Romanliteratur einzigartig und auch von der Ihren wahrscheinlich weit entfernt.

Und dann wären da ja auch noch Ihre E-Mails: Müssten Sie sich nicht erst mal damit befassen?

Im Oktober 2010 ist es siebzig Jahre her, dass Christina Stead ihr Meisterwerk veröffentlichte, dem glanzlose Besprechungen und dürftige Absatzzahlen beschieden waren. Mary McCarthy schrieb für The New Republic eine besonders ätzende Kritik, in der sie die Anachronismen des Romans und seine mangelhafte Durchdringung amerikanischer Lebenswirklichkeit anprangerte. Stead war in der Tat erst knapp vier Jahre zuvor in die Vereinigten Staaten gekommen, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten William Blake, einem amerikanischen Marxisten, Schriftsteller und Geschäftsmann, der sich um die Scheidung von seiner Frau bemühte. Stead war in Australien aufgewachsen und 1928, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, entschlossen aus dem Land geflüchtet. Sie und Blake hatten in London, Paris, Spanien und Belgien gelebt, während sie ihre ersten vier Bücher schrieb; das vierte, House of All Nations, war ein monumentaler, unzugänglicher Roman über das internationale Bankwesen. Bald nach ihrer Ankunft in New York machte Stead sich daran, ihre unglaubliche australische Kindheit literarisch zu verarbeiten. In der East 22nd Street, unweit vom Gramercy Park, schrieb sie in weniger als achtzehn Monaten Der Mann, der seine Kinder liebte. Ihrer Biographin Hazel Rowley zufolge siedelte Stead die Handlung des Romans auf Drängen des Verlags in Washington D. C. an; man sei bei Simon & Schuster nicht der Meinung gewesen, dass amerikanische Leser sich für Australier interessieren würden.

Wer zu diesem späten Zeitpunkt noch einmal die Aufmerksamkeit auf den Roman lenken möchte, der müht sich im Schatten der ausführlichen, brillanten Einleitung, die der Dichter Randall Jarrell für die Neuauflage von 1965 geschrieben hat. Erstens könnte niemand das Buch umfassender und präziser würdigen, als Jarrell es bereits getan hat; und zweitens: Wenn es einem so kraftvollen Appell wie dem seinen nicht gelungen ist, die Welt für diesen Roman zu begeistern, und das in einer Zeit, als Literatur in unserem Land noch einigermaßen ernst genommen wurde, dann spricht wenig dafür, dass es heute gelingen könnte. Allerdings wäre Jarrells Einleitung selbst ein sehr guter Grund, den Roman zu lesen, zumal man auf diese Weise daran erinnert würde, wie hervorragende Literaturkritik einmal ausgesehen hat: leidenschaftlich, persönlich, unparteiisch, fundiert und an gewöhnliche Leser gerichtet. Jeder, dem die Literatur noch etwas bedeutet, könnte dabei wehmütig werden.

Jarrell, der im Zusammenhang mit Stead wiederholt auf Tolstoi verwiesen hat, tat zweifellos alles, was in seiner Kraft stand, um ihr einen Platz im westlichen Kanon zu verschaffen, und ist damit zweifellos gescheitert. Eine 1980 veröffentlichte Studie der hundert meistzitierten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die sich auf wissenschaftliche Erwähnungen in den späten siebziger Jahren gründet, führt Margaret Atwood, Gertrude Stein und Anaïs Nin auf, nicht aber Christina Stead. Das wäre weniger erstaunlich, würden Stead und ihr bester Roman nach akademischer Kritik jeder Couleur nicht förmlich schreien. Besonders verwunderlich scheint, dass Der Mann, der seine Kinder liebte nicht zu einem Grundlagentext in jedem Frauenforschungsstudiengang des Landes geworden ist.