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Ich traf Orsi am Vorabend der Regionalwahlen, die Berlusconis Koalition weitere Zuwächse bescherten, im Büro seiner Partei in Genua. Orsi, ein gutaussehender Mittvierziger mit sanften Augen, ist ein passionierter Jäger, der seinen Urlaubsort danach aussucht, welche Tiere man dort schießen kann. Seine Argumente für eine Änderung des Gesetzes von 1992 lauten, es habe zu einer sprunghaften Zunahme von Schädlingen geführt; italienische Jäger sollten dasselbe tun dürfen wie französische oder spanische; private Landbesitzer könnten den Wildbestand besser regulieren als der Staat, und das Jagen sei eine gesellschaftlich und spirituell nützliche Tätigkeit. Er zeigte mir ein Zeitungsfoto von einem Wildschwein, das über eine Straße in Genua spazierte, er sprach von Starenschwärmen, welche die Flugsicherheit bedrohten und große Schäden in Weinbergen anrichteten. Als ich ihm zustimmte und sagte, die Zahl von Wildschweinen und Staren müsse natürlich begrenzt werden, fuhr er fort, Jäger gingen nicht gern in der vorgeschriebenen Zeit auf die Wildschweinjagd. «Und überhaupt halte ich es für falsch, die Jagd auf Wildschweine, Biberratten und Stare zu beschränken», sagte er. «Um die kann sich die Armee kümmern.»

Ich fragte Orsi, ob er dafür sei, bei allen Vogelarten die für die Erhaltung der Art maximal zulässigen Abschusszahlen auszuschöpfen.

«Stellen wir uns die Tierwelt als Kapital vor, das jedes Jahr Zinsen abwirft», sagte er. «Wenn ich lediglich die Zinsen verbrauche, bleibt das Kapital unangetastet, und die Zukunft sowohl der Art als auch der Jagd ist gesichert.»

«Aber es gibt doch auch die Investmentstrategie, einen Teil der Zinsen zu reinvestieren, um das Kapital zu vergrößern», wandte ich ein.

«Das kommt auf die jeweilige Tierart an. Für jede gibt es eine optimale Populationsdichte, die entweder über- oder unterschritten wird. Da ist die Jagd das geeignete Regulativ.»

Bei früheren Italienbesuchen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass die Populationsdichte praktisch aller Vogelarten suboptimal war. Da Orsi anderer Meinung zu sein schien, fragte ich ihn, welchen Nutzen die Gesellschaft aus der Jagd auf harmlose Vögel ziehe. Zu meiner Überraschung zitierte er Peter Singer, den Autor von Animal Liberation — Die Befreiung der Tiere, und sagte, wenn jeder Mensch die Tiere, die er essen wolle, töten müsste, wären wir alle Vegetarier. «In unserer verstädterten Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Mensch und Tier, in der es immer Elemente der Gewalt gab, verlorengegangen», sagte Orsi. «Als ich vierzehn war, befahl mein Großvater mir, ein Huhn zu schlachten — das war eine Familientradition — , und jetzt denke ich jedes Mal, wenn ich ein Hähnchen esse, dass dieses Fleisch einmal ein Tier war. Und um auf Peter Singer zurückzukommen: Der übermäßige Fleischverzehr in unserer Gesellschaft korrespondiert mit dem übermäßigen Verbrauch von Ressourcen. Auf gewaltigen Flächen wird ressourcenintensive, industrialisierte Landwirtschaft betrieben, weil wir unser ländliches Lebensgefühl verloren haben. Wir sollten nicht glauben, dass Jagen die einzige Gewalt ist, die Menschen der Natur antun. Und in diesem Licht betrachtet, ist die Jagd etwas Sensibilisierendes.»

Ich musste Orsi in diesem Punkt recht geben, doch für die italienischen Umweltschützer, mit denen ich sprach, bewies seine Rhetorik nur, wie geschickt er im Umgang mit Journalisten war. Hinter der Initiative zur Liberalisierung der Jagdgesetze steht nach Ansicht der ambientalisti vor allem Italiens große Waffen- und Munitionsindustrie. Einer sagte: «Wenn dich jemand fragt, was du eigentlich herstellst, sagst du dann: ‹Landminen, die bosnischen Kindern die Beine abreißen›, oder sagst du: ‹Handwerklich hochwertige Schrotflinten für Leute, die gern bei Morgengrauen in den Marschen auf die Enten warten›?»

Niemand weiß, wie viele Vögel in Italien vom Himmel geholt werden. Die Zahl der jährlich abgeschossenen Singdrosseln beispielsweise wird mit drei bis sieben Millionen angegeben, aber Fernando Spina, führender Wissenschaftler bei der italienischen Umweltschutzbehörde, hält diese Schätzungen für «äußerst konservativ»: Nur die gewissenhaftesten Jäger tragen ihre Beute korrekt auf der Jagdkarte ein, die örtlichen Forstbehörden haben nicht genug Leute, um die Jäger zu kontrollieren, die Datenbestände der Provinzen sind noch kaum digital erfasst, und die meisten ländlichen Jagdgenossenschaften ignorieren sämtliche Anfragen und Bitten um eine Übermittlung von Daten. Unbestritten ist, dass Italien ein höchst bedeutendes Durchzugsland ist. Man hat dort beringte Vögel aus allen anderen europäischen sowie achtunddreißig afrikanischen und sechs asiatischen Ländern gefunden. Und in Italien beginnt die Rückwanderung nach Norden bereits sehr früh, bei einigen Arten schon Ende Dezember. Die Vogelschutzrichtlinie der EU schützt alle Vögel, die sich auf der Rückwanderung befinden, und erlaubt die Jagd nur im Rahmen der natürlichen herbstlichen Sterblichkeitsrate. Daher sind die meisten verantwortungsbewussten Jäger der Ansicht, die Jagdzeit solle am 31. Dezember enden. Italiens neues Gesetz geht in die entgegengesetzte Richtung und verlängert die Jagdsaison bis in den Februar hinein. Da die Vögel, die am frühesten zurückkehren, gewöhnlich die stärksten ihrer Art sind, gibt das neue Gesetz ausgerechnet die zum Abschuss frei, die eigentlich die besten Aussichten hätten, eine Brut großzuziehen. Eine verlängerte Jagdzeit begünstigt auch die Wilderer, die es auf geschützte Arten abgesehen haben, denn ein unerlaubter Schuss klingt nicht anders als ein erlaubter. Und ohne gesicherte Daten kann niemand sagen, ob die regional festgelegten Abschusszahlen für eine Art die jeweilige natürliche Sterblichkeitsrate übersteigen. «Die Abschusspläne werden von den örtlichen Behörden erstellt und sind vollkommen willkürlich», sagte Spina. «Sie stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Beständen.»

Zwar ist der Verlust von Lebensräumen der gravierendste Grund für den Kollaps der europäischen Vogelpopulationen, aber die italienische Art der Jagd (caccia selvaggia, «die wilde Jagd», wie sie euphemistisch genannt wird) vergrößert den Schaden erheblich. Als ich Fulco Pratesi, einen ehemaligen Großwildjäger, der die italienische Sektion des World Wildlife Fund gegründet hat und das Jagen inzwischen als «Manie» bezeichnet, fragte, warum italienische Jäger so versessen darauf seien, Vögel zu töten, sprach er von der Liebe seiner Landsleute zu Waffen, von ihrem Festhalten an einer «männlichen Haltung», von ihrem Vergnügen daran, Gesetze zu brechen, und seltsamerweise auch von ihrer Liebe zur Natur. «Ein italienischer Jäger ist wie ein Vergewaltiger, der Frauen liebt, aber seine Liebe nur auf perverse, gewalttätige Weise ausdrücken kann. Vögel, die bloß zweiundzwanzig Gramm wiegen, werden mit Schrotladungen von zweiunddreißig Gramm geschossen.» Italiener, fuhr er fort, könnten sich leicht für «symbolische» Tiere wie Wolf oder Bär begeistern, und tatsächlich würden diese Arten hier effektiver geschützt als in anderen europäischen Ländern. «Aber Vögel sind unsichtbar», sagte er. «Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Im Norden kann man die Ankunft der Zugvögel sehen und hören, und das beglückt die Menschen. Hier aber leben die Leute in Städten, in großen Wohnanlagen, und die Vögel fliegen buchstäblich über sie hinweg.»