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Natürlich ist die Situation nie statisch. Zu lesen und zu schreiben ist eine Form aktiven sozialen Engagements, des Gesprächs und des Wettstreits. Es ist eine Form des Seins und Werdens. Irgendwie gibt es, im rechten Moment, wenn ich mich besonders verloren und elend fühle, immer einen neuen Freund, den ich finden, einen alten Freund, von dem ich mich distanzieren, einen alten Feind, dem ich vergeben, einen neuen Feind, den ich mir machen kann. Tatsächlich — und darüber werde ich später mehr sagen — ist es mir unmöglich, einen neuen Roman zu beginnen, ohne vorher neue Freunde und Feinde gefunden zu haben. Um Die Korrekturen schreiben zu können, habe ich Freundschaft mit Kenzaburō Ōe, Paula Fox, Halldór Laxness und Jane Smiley geschlossen. Für Freiheit fand ich neue Verbündete in Stendhal, Tolstoi und Alice Munro. Eine Zeitlang war Philip Roth mein neuer erbitterter Feind, aber vor nicht allzu langer Zeit ist auch er, unerwartet, zum Freund geworden. Ich ziehe nach wie vor gegen Amerikanisches Idyll zu Felde, aber als ich schließlich Sabbaths Theater las, wurden die Furchtlosigkeit und Wildheit dieses Buchs mir zur Inspiration. Ich war so dankbar wie schon lange keinem Schriftsteller mehr, als ich jene Szene in Sabbaths Theater las, in der Mickey Sabbath von seinem besten Freund in der Badewanne erwischt wird, in der Hand ein Foto der halbwüchsigen Tochter jenes Freundes und eine ihrer Unterhosen. Oder die Szene, in der Sabbath einen Kaffeepappbecher in der Tasche seiner Armeejacke findet und beschließt, sich zu erniedrigen, indem er in der U-Bahn um Geld bettelt. Mag sein, dass Roth mich nicht zum Freund haben möchte, aber ich war, in diesen Momenten, froh, ihn meinen Freund zu nennen. Ich bin froh, die wüste Komik von Sabbaths Theater als Korrektiv und Tadel gegen die Sentimentalität bestimmter junger amerikanischer Autoren und nicht ganz so junger Kritiker zu halten, die, Kafka zum Trotz, zu glauben scheinen, in der Literatur ginge es darum, nett zu sein.

Die zweite immer wiederkehrende Frage lautet: Zu welcher Tageszeit schreiben Sie, und womit?

Den Menschen, die diese Frage stellen, muss sie wie die sicherste und höflichste vorkommen. Ich habe den Verdacht, dass es die Frage ist, die man einem Autor stellt, wenn einem sonst keine einfällt. Und doch ist sie für mich die auf verstörende Weise persönlichste und zudringlichste aller Fragen. Sie zwingt mich, mir vor Augen zu führen, wie ich mich jeden Morgen um acht Uhr an den Computer setze: einen objektiven Blick auf den Menschen zu werfen, der, wenn er sich morgens an den Computer setzt, nichts weiter als reine, unsichtbare Subjektivität sein möchte. Wenn ich arbeite, will ich niemanden sonst im Raum haben, nicht einmal mich selbst.

Frage Nr. 3 lautet: Ich habe ein Interview mit einem Schriftsteller gelesen, der sagt, dass beim Schreiben ab einem bestimmten Punkt die Figuren «übernehmen» und ihm sagen, was zu tun ist. Geht Ihnen das auch so?

Diese Frage treibt meinen Blutdruck in die Höhe. Keiner hat sie besser beantwortet als Nabokov in seinem Interview mit der Paris Review. Da macht er E. M. Forster als den Ursprung des Mythos von den «übernehmenden» Romanfiguren aus und behauptet, er, Nabokov, behandele seine eigenen Figuren wie «Galeerensklaven», im Gegensatz zu Forster, der die seinen auf ihrer Reise nach Indien davonsegeln lasse. Offenkundig trieb diese Frage auch Nabokovs Blutdruck in die Höhe.

Wenn ein Schriftsteller eine solche Behauptung aufstellt wie die von Forster, liegt er bestenfalls einfach falsch. Häufiger jedoch rieche ich, leider, einen Hauch von Selbstüberhöhung, so als wollte er versuchen, seine Arbeit gegen das mechanistische Stricken von Genreromanen abzuheben. Der Autor möchte uns glauben machen, dass er, anders als diese Schmierfinken, die von vornherein wissen, wie ihre Bücher ausgehen, eine so blühende Phantasie hat und dass seine Figuren so echt und lebendig sind, dass er sie nicht kontrollieren kann. Wie gesagt, das ist bestenfalls nicht wahr, setzt diese Vorstellung doch einen Verlust auktorialen Willens voraus, einen Absichtsverzicht. Die primäre Aufgabe eines Romanschriftstellers aber ist es, Bedeutung hervorzubringen, und könnte man diese Aufgabe irgendwie seinen Figuren überlassen, würde man ihr zwangsläufig aus dem Weg gehen.

Doch nehmen wir aus reiner Nächstenliebe einmal an, dass der Schriftsteller, der ein Diener seiner Figuren zu sein behauptet, sich nicht bloß schmeicheln will. Was genau könnte er meinen? Wahrscheinlich meint er, dass eine Figur, ist sie erst einmal so weit ausgearbeitet, ein kohärentes Ganzes zu bilden, eine Art Unausweichlichkeit in Gang setzt. Er meint, konkret, dass oftmals die Geschichte, die er einer Figur ursprünglich zugedacht hat, sich aus den Charakterzügen, die er für sie zu zeichnen in der Lage war, einfach nicht ergibt. Theoretisch kann ich mir einen Charakter, den ich zum Mörder seiner Freundin machen will, vorstellen, muss dann aber möglicherweise, beim eigentlichen Schreiben, feststellen, dass eben der Charakter, den ich auf dem Papier zum Funktionieren bringen kann, zu viel Empathie oder Reflexionsvermögen hat, um zum Mörder zu werden. Der entscheidende Ausdruck in diesem Zusammenhang ist «auf dem Papier funktionieren». Man kann sich theoretisch alles Beliebige vorstellen und vornehmen. Aber ein Schriftsteller ist immer eingeschränkt durch das, was er oder sie wirklich «zum Funktionieren bringen» kann: sodass es plausibel, lesenswert, sympathisch, unterhaltsam, schlüssig und, mehr als alles andere, unverwechselbar und originell ist. Flannery O’Connor meinte, ein Schriftsteller tut alles, was geht und womit er ungeschoren davonkommt — «und das ist noch für keinen viel gewesen». Hat man erst einmal die bloße Planung des Buchs hinter sich gelassen und mit dem eigentlichen Schreiben begonnen, schrumpft das Universum denkbarer menschlicher Typen und Verhaltensweisen radikal zusammen auf den Mikrokosmos jener menschlichen Möglichkeiten, die man selber in sich trägt. Eine Figur stirbt auf dem Papier, wenn man ihre Stimme nicht hört. Das läuft, schätze ich, in sehr eingeschränktem Sinn hinaus auf «die Figur übernimmt», oder «sie sagt dir, was sie tun wird und was nicht». Doch wenn eine Figur etwas nicht tun kann, dann, weil man selbst nicht dazu in der Lage ist. Die Aufgabe besteht eben darin, herauszufinden, was die Figur kann — die Erzählung so weit wie möglich zu treiben und auch sicher keine der aufregenden Möglichkeiten, die in einem selber stecken, zu übersehen, während man die Erzählung immer weiter in Richtung eines Sinns dehnt.

Was mich zur immer wiederkehrenden Frage Nr. 4 bringt: Ist Ihre Literatur autobiographisch?

Jeder Romanschriftsteller, der diese Frage aufrichtig mit nein beantworten würde, ist mir suspekt, und doch bin ich, wenn man sie mir stellt, selbst in großer Versuchung, nein zu sagen. Von den vier wiederkehrenden Fragen wirkt diese auf mich am feindseligsten. Vielleicht ist diese Feindseligkeit eine bloße Projektion von mir, aber ich habe das Gefühl, meine Vorstellungskraft würde in Frage gestellt. So wie: «Handelt es sich wirklich um Literatur oder nur um einen oberflächlich getarnten Erfahrungsbericht? Und weil einem im Leben ja nur so und so viel passieren kann, haben Sie Ihr autobiographisches Material bestimmt bald aufgebraucht — falls Sie es in Wahrheit nicht längst aufgebraucht haben! — , und deshalb schreiben Sie auch keine guten Bücher mehr, stimmt’s? Überhaupt, wenn Ihre Bücher bloß oberflächlich getarnte Autobiographie sind, vielleicht waren Sie dann gar nicht so interessant, wie wir gedacht haben? Denn was macht Ihr Leben letztlich so schrecklich viel interessanter als das irgendeines anderen? Ihr Leben ist nicht so interessant wie das von Barack Obama, oder? Und außerdem, wenn Ihr Werk autobiographisch ist, warum waren Sie dann nicht gleich so ehrlich und haben einen sachlichen Lebensbericht geschrieben? Warum es in Lügen kleiden? Was sind Sie für ein schlechter Mensch, dass Sie uns Lügengeschichten erzählen, um Ihr Leben interessanter und aufregender aussehen zu lassen?» Ich höre all diese anderen Fragen in der einen Frage, und binnen kürzester Zeit wirkt das bloße Wort autobiographisch beschämend auf mich.