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Ich selbst verstehe unter einem autobiographischen Roman strikt einen, in dem die Hauptfigur dem Autor stark ähnelt und die beschriebenen Geschehnisse denen des Autors im wirklichen Leben gleichen. Mein Eindruck ist, dass In einem andern Land, Im Westen nichts Neues, Villette, Die Abenteuer des Augie March und Der Mann, der seine Kinder liebte — allesamt Meisterwerke — in dieser Hinsicht substanziell autobiographisch sind. Die meisten Romane jedoch sind es, interessanterweise, nicht. Meine eigenen Romane sind es nicht. In dreißig Jahren habe ich vermutlich nicht mehr als zwanzig oder dreißig Seiten mit Szenen veröffentlicht, die auf Ereignisse im wirklichen Leben zurückgingen, an denen ich beteiligt war. Ich habe versucht, sehr viel mehr als diese zu schreiben, aber autobiographische Szenen funktionieren in einem Roman offenbar nur selten. Sie sind mir peinlich, oder sie kommen mir nicht interessant genug vor, oder, was am häufigsten zutrifft, sie sind für die Geschichte, die ich zu erzählen versuche, nicht wirklich relevant. In den Korrekturen gibt es gegen Ende eine Szene, in der Denise Lambert — die mir insofern ähnelt, als sie das jüngste Kind einer fünfköpfigen Familie ist — ihrem dementen Vater ein paar einfache Dehnübungen beizubringen versucht und sich dann damit befassen muss, dass er ins Bett gemacht hat. Das ist mir wirklich passiert, und ein paar der Details habe ich unmittelbar übernommen. Auch einige der Erfahrungen, die Chip Lambert mit seinem Vater im Krankenhaus macht, sind meine. Und ich habe einen schmalen Band mit Erinnerungen geschrieben, Die Unruhezone, der fast ausschließlich Szenen aus erster Hand enthält. Doch das war kein Roman, und also sollte ich die immer wiederkehrende Autobiographie-Frage mit einem schallenden, ungenierten NEIN beantworten können. Oder doch wenigstens, wie es meine Kollegin Elisabeth Robinson tut, mit einem «Ja, zu siebzehn Prozent. Nächste Frage, bitte».

Das Problem ist, dass meine Literatur in einem anderen Sinn extrem autobiographisch ist und ich es sogar für meine Aufgabe als Schriftsteller halte, sie fortwährend autobiographischer werden zu lassen. Meiner Auffassung nach soll der Roman ein persönliches Ringen sein, eine direkte und kompromisslose Auseinandersetzung mit der Geschichte, die der Autor über sein Leben erzählt. Diese Auffassung übernehme ich, wiederum, von Kafka, der, obwohl er nie in ein Insekt verwandelt wurde und nie ein Lebensmittel (ein Apfel vom Tisch seiner Familie!) in seinem Fleisch stecken blieb und dort verrottete, sein ganzes Schriftstellerleben darauf verwendet hat, sein persönliches Ringen mit seiner Familie, mit Frauen, mit dem Sittengesetz, mit seinem jüdischen Erbe, mit seinem Unbewussten, mit seinen Schuldgefühlen und mit der modernen Welt zu beschreiben. Kafkas Werk, das aus der nächtlichen Traumwelt in Kafkas Hirn erwächst, ist autobiographischer, als jede realistische Nacherzählung seiner Erfahrungen bei Tag, im Büro, bei seiner Familie oder einer Prostituierten je hätte sein können. Denn was schließlich ist Literatur, wenn nicht eine Art absichtsvolles Träumen? Der Schriftsteller arbeitet an der Erschaffung eines Traums, der lebendig ist und eine Bedeutung hat, damit der Leser ihn lebhaft träumen kann und eine Bedeutung erfährt. Und ein Werk wie Kafkas, das dem Traum unmittelbar zu entspringen scheint, ist deshalb eine außergewöhnlich reine Form von Autobiographie. Hier liegt ein wichtiges Paradox, das ich hervorheben möchte: Je größer der autobiographische Gehalt im Werk eines Schriftstellers, desto geringer die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem eigentlichen Leben. Je tiefer der Schriftsteller nach Bedeutung gräbt, desto mehr werden die zufälligen Einzelheiten seines Lebens zu Hemmnissen seines absichtsvollen Träumens.

Und aus ebendiesem Grund ist es fast niemals einfach, gute Literatur zu schreiben. In dem Moment, wo einem Schriftsteller die Literatur leichtzufallen scheint — und hier soll jeder und jede eigene Beispiele beibringen — , ist in der Regel der Moment, wo es sich nicht länger lohnt, diesen Schriftsteller zu lesen. Eine Binsenwahrheit, wenigstens in den Vereinigten Staaten, besagt, dass jeder Mensch einen Roman in sich trägt. Mit anderen Worten, einen autobiographischen Roman. Für Menschen, die mehr als einen Roman schreiben, lässt sich diese Binsenwahrheit wahrscheinlich abändern zu: Jeder Mensch trägt einen leicht zu schreibenden Roman in sich, eine bedeutsame, vorgefertigte Erzählung. Offenkundig spreche ich hier nicht über Unterhaltungsschriftsteller, nicht über P. G. Wodehouse oder Elmore Leonard, deren Bücher sich jeweils ähneln, was die Freude an ihnen nicht mindert — tatsächlich lesen wir sie ja wegen der verlässlichen Behaglichkeit ihrer vertrauten Welten. Ich spreche von komplizierteren Werken, und es ist eines meiner Vorurteile, dass Literatur keine bloße Darbietung sein kann: Dass es, wenn der Autor kein Risiko eingeht — wenn das Buch nicht für den Autor selbst, in gewisser Hinsicht, eine Expedition ins Unbekannte war; wenn er sich nicht selbst eine schwierige Aufgabe gestellt hat; wenn das fertige Buch nicht die Überwindung eines großen Widerstands ist — , dann das Lesen nicht lohnt. Und, was den Autor betrifft, meiner Meinung nach auch nicht das Schreiben.

Das scheint mir in einer Zeit, in der es so viele andere spaßige und preiswerte Dinge gibt, die ein Leser machen kann, statt zu einem Roman zu greifen, umso wahrer. Als Schriftsteller ist man es seinen Lesern heute schuldig, sich die schwierigste Aufgabe zu stellen, der noch gerecht werden zu können man wenigstens hoffen darf. Mit jedem Buch muss man so tief wie möglich graben und so weit wie möglich ausholen. Und wenn man das tut, und es gelingt einem ein halbwegs gutes Buch, dann heißt das, beim nächsten Buch noch tiefer graben und noch weiter ausholen zu müssen, weil es die Mühe sonst wiederum nicht lohnt. Was praktisch heißt, dass man, um das nächste Buch zu schreiben, ein anderer Mensch werden muss. Der Mensch, der man bereits geworden ist, hat das beste Buch, das er schreiben konnte, ja bereits geschrieben. Ohne sich zu ändern, kommt man nicht voran. Ohne, mit anderen Worten, an der Geschichte des eigenen Lebens zu arbeiten. Was bedeutet: an der eigenen Autobiographie.

Meine übrigen Bemerkungen möchte ich der Vorstellung widmen, dass es nötig ist, zu dem Menschen zu werden, der das Buch schreiben kann, das man schreiben muss. Ich weiß, dass ich, indem ich von meiner Arbeit und der Entwicklung vom Scheitern zum Erfolg erzähle, riskiere, so zu wirken, als wollte ich mir selbst auf die Schulter klopfen und wäre übermäßig von mir eingenommen. Nicht dass es weiter verwunderlich oder verurteilenswert ist, wenn ein Schriftsteller stolz auf seine besten Arbeiten ist und viel Zeit damit verbringt, über sein Leben nachzudenken. Aber muss er auch noch darüber reden? Lange Zeit hätte ich darauf mit Nein geantwortet, und dass ich jetzt mit Ja antworte, könnte durchaus etwas Schlechtes über meinen Charakter verraten. Aber ich werde so oder so über Die Korrekturen sprechen und einige der Schwierigkeiten schildern, die ich überwinden musste, um ihr Autor zu werden. Ich möchte vorausschicken, dass viele dieser Schwierigkeiten für mich — wie es, glaube ich, für alle Schriftsteller gilt, die sich ganz dem Problem des Romans verschreiben — darin bestanden, Scham, Schuld und Depression zu überwinden. Ich möchte außerdem vorausschicken, dass bei dieser Schilderung neuerliche Wellen der Scham über mich hereinbrechen werden.