Auch wenn mir jetzt klar ist, dass Andy einfach nicht in das Buch gehörte, war es mir damals doch alles andere als klar. Ich hatte ein paar wirklich schlimme Ehejahre damit verbracht, es zu einer intimen und enzyklopädischen Kenntnis von Depression und Schuld zu bringen, und da Andy Aberant durch seine Depression und Schuld definiert war (insbesondere in Bezug auf Frauen und ganz besonders in Bezug auf deren biologische Uhr), schien es undenkbar, mir mein hart erarbeitetes Wissen nicht zunutze zu machen und ihn nicht im Buch zu lassen. Das einzige Problem war — wie ich in meinen Roman-Notizen wieder und wieder schrieb — , dass ihm der Humor fehlte. Er war verstörend und verklemmt und abseitig und deprimierend. Sieben Monate lang versuchte ich beinahe jeden Tag, ein paar Andy-Seiten zu schreiben, die mir gefielen. Dann rang ich, in meinen Notizen, zwei weitere Monate darum, ob ich ihn nun abservieren sollte oder nicht. Was genau ich in all diesen Monaten dachte und fühlte, erschließt sich mir heute so wenig wie das Elend einer Grippe, nachdem man sich von ihr erholt hat. Ich weiß nur, dass ich ihn schließlich losließ, weil ich (1) völlig erschöpft war, (2) meine Depression generell abklang und (3) die Schuldgefühle gegenüber meiner Frau plötzlich nachließen. Ein gehörig schlechtes Gewissen hatte ich immer noch, doch hatte ich genug Abstand gewonnen, um erkennen zu können, dass ich nicht an allem schuld war. Außerdem hatte ich mich kürzlich in eine Frau verliebt, die ein kleines bisschen älter war als ich, weshalb ich mir, so lächerlich es klingen mag, meiner Frau gegenüber weniger schurkisch vorkam, weil ich sie in ihren späten Dreißigern kinderlos verlassen hatte. Meine neue Freundin kam aus Kalifornien und verbrachte eine Woche bei mir in New York, und am Ende dieser extrem glücklichen Woche war ich bereit zu erkennen, dass für Andy Aberant im Buch kein Platz war. In meinen Notizen malte ich ihm einen kleinen Grabstein, den ich mit einem Grabspruch aus Faust II versah: «Den können wir erlösen.» Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich damals verstand, was ich damit meinte. Mittlerweile aber ergibt es einen Sinn.
Ohne Andy blieb ich allein mit den Lamberts und ihren drei erwachsenen Kindern zurück, die schon die ganze Zeit an den Rändern des Romans herumgespukt hatten. Ich überspringe, welche Kontraktionen und Subtraktionen er noch durchlaufen musste, um schreibbar zu werden, und erwähne nur zwei weitere Hindernisse, die ich zumindest teilweise überwinden musste, um zu dem Menschen zu werden, der die Geschichte schreiben konnte.
Das erste war die Scham. Mit Mitte dreißig schämte ich mich für so ziemlich alles, was ich in den fünfzehn vorangegangenen Jahren meines Lebens getan hatte. Ich schämte mich dafür, so jung geheiratet zu haben, schämte mich für meine Schuldgefühle, schämte mich für die Jahre moralischer Verwirrtheit auf dem Weg zur Scheidung, schämte mich für meine sexuelle Unerfahrenheit, schämte mich für die lange Zeit meiner gesellschaftlichen Isolation, schämte mich dafür, was für eine peinliche und engstirnige Mutter ich hatte, schämte mich, so ein Sensibelchen und schutzloser Mensch zu sein statt eines distanzierten, kontrollierten und intellektuellen Felsens in der Brandung wie DeLillo oder Pynchon, ich schämte mich dafür, ein Buch zu schreiben, das sich offenbar der Frage widmen wollte, ob eine peinliche Mutter aus dem Mittleren Westen noch ein letztes Weihnachtsfest daheim mit ihrer Familie zustande bekommt. Ich wollte einen Roman über die großen Fragen meiner Zeit schreiben, und stattdessen versank ich, wie Josef K., der sich zu seiner Bestürzung und Verwirrung mit seinem Prozess beschäftigen muss, während all seine Kollegen Karriere machen, in Scham über meine Unschuld.
Ein großer Teil dieser Scham konzentrierte sich in der Figur des Chip Lambert. Ich arbeitete ein ganzes Jahr, um seine Geschichte in Gang zu kriegen, und am Ende dieses Jahres hatte ich ungefähr dreißig brauchbare Seiten. In den letzten Tagen meiner Ehe hatte ich eine kurze Beziehung mit einer jungen Frau gehabt. Ich lernte sie kennen, als ich unterrichtete. Sie war keine Studentin und nie meine Studentin gewesen, und sie war viel reizender und geduldiger als das Mädchen, mit dem sich Chip Lambert einlässt. Aber die Beziehung war sehr unbehaglich und unbefriedigend, mittlerweile wand ich mich vor Scham, wenn ich an sie zurückdachte, und aus irgendeinem Grund war es nötig, sie in Chips Geschichte einzufügen. Das Problem war, dass Chip jedes Mal, wenn ich ihn in eine Situation wie die meine brachte, fürchterlich abstoßend auf mich wirkte. Um seine Lage plausibel und verständlich zu machen, versuchte ich wieder und wieder, eine Vorgeschichte für ihn zu erfinden, die einige Ähnlichkeiten mit meiner aufwies, aber ich konnte nicht aufhören, meine eigene Unbedarftheit zu hassen. Als ich versuchte, Chip weniger unschuldig, weltgewandter und sexuell erfahrener sein zu lassen, klang die Geschichte bloß unehrlicher und uninteressant. Ich wurde vom Geist Andy Aberants heimgesucht und auch von zwei frühen Romanen Ian McEwans, Unschuldige und Der Trost von Fremden, beide derart klebrig, dass ich, nachdem ich sie gelesen hatte, am liebsten unter die Dusche gesprungen wäre. Sie waren mein Musterbeispiel für das, was ich nicht schreiben wollte, aber offenbar zu schreiben nicht lassen konnte. Jedes Mal, wenn ich für ein paar Tage die Luft angehalten und einen neuen Stapel Chip-Seiten produziert hatte, hätte ich am liebsten geduscht. Die Seiten fingen ganz witzig an und gingen dann schnell in ein Eingeständnis von Scham über. Es schien einfach unmöglich, meine singuläre, bizarre Erfahrung in eine allgemeinere und verständnisvolle und unterhaltsame Erzählung zu übersetzen.
Vieles widerfuhr mir in dem Jahr, in dem ich mit Chip Lambert rang, aber zwei Dinge, die ich in diesem Jahr zu hören bekam, ragen ganz besonders heraus. Eines davon sagte meine Mutter, am letzten Nachmittag, den ich mit ihr verbrachte, als wir schon wussten, dass sie bald sterben würde. Ein Kapitel der Korrekturen war im New Yorker erschienen, und obwohl meine Mutter, was ich ihr hoch anrechne, entschieden hatte, es nicht zu lesen, während sie starb, beschloss ich, ihr ein paar Dinge zu gestehen, die ich immer vor ihr geheim gehalten hatte. Es waren keine furchtbar dunklen Geheimnisse — nur mein Versuch, zu erklären, warum ich nicht das Leben führte, das sie sich für mich gewünscht hatte. Ich wollte ihr versichern, dass ich, so seltsam mein Leben für sie auch aussehen musste, schon klarkommen würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Und wie im Fall der New Yorker-Geschichte wollte sie meist gar nicht so genau wissen, wie oft ich nachts aus dem Schlafzimmerfenster geklettert war und wie entschieden ich schon immer hatte Schriftsteller werden wollen, auch wenn ich etwas ganz anderes behauptet hatte. Doch spät am Nachmittag machte sie deutlich, sie hatte sehr wohl zugehört. Sie nickte und sagte wie in einer vagen Zusammenfassung: «Na ja, du bist ein Exzentriker.» Teils drückte das ihren Versuch aus, anzuerkennen und zu vergeben, wer ich war. Vor allem aber entsprach dieser Satz, vage und summarisch, wie er daherkam — und mit seinem fast schon abschätzigen Ton — , ihrer Art zu sagen, dass es für sie am Ende keine Rolle spielte, was für ein Mensch ich war. Dass mein Leben mir wichtiger war als ihr. Dass für sie jetzt ihr eigenes Leben, das gerade zu Ende ging, die größte Rolle spielte. Und das war das letzte ihrer Geschenke an mich: Die implizite Anweisung, mich nicht so sehr darum zu sorgen, was sie oder irgendjemand anders von mir denken könnte. Ich selbst zu sein, so wie sie, in ihrem Sterben, sie selbst war.
Der andere wirklich hilfreiche Kommentar kam ein paar Monate später von meinem Freund David Means, dem ich gestand, dass mich Chip Lamberts Sexualleben in den Wahnsinn treibe. David ist ein echter Künstler, und seine hellsichtigsten Kommentare sind meistens zugleich seine dunkelsten und rätselhaftesten. Zum Thema Scham sagte er zu mir: «Man schreibt nicht durch die Scham hindurch, man schreibt um sie herum.» Ich könnte Ihnen immer noch nicht erklären, was genau er mit diesen kontrastierenden Präpositionen meinte, doch mir war augenblicklich klar, dass jene beiden frühen McEwan-Romane Beispiele dafür waren, wie jemand durch die Scham hindurch schrieb, und dass meine Aufgabe mit Chip Lambert darin bestand, auf irgendeinem Weg die Scham in die Erzählung hineinzubringen, ohne von ihr überwältigt zu werden: Es musste mir gelingen, die Scham als Gegenstand zu isolieren und unter Quarantäne zu stellen, idealerweise als Gegenstand einer Komödie, statt sie jeden einzelnen Satz durchdringen und vergiften zu lassen. Von dort war es ein kleiner Schritt zu dem Einfall, dass Chip Lambert während des Techtelmechtels mit seiner Studentin ein illegales Medikament nimmt, dessen primäre Wirkung es ist, Scham zu unterdrücken. Kaum hatte ich diese Idee und konnte endlich anfangen, über die Scham zu lachen, schrieb ich den restlichen Chip-Teil in ein paar Wochen und den Rest des Romans innerhalb eines Jahres.