Natürlich nahm ich an, dass ich die Wahrheit sagte und Koppel nur die gängige Meinung wiedergab. Doch Koppel hatte ferngesehen, ich aber nicht. Und weil ich keinen Fernseher hatte, begriff ich nicht, dass dem Land der schlimmste Schaden nicht vom Erreger, sondern von der massiven Überreaktion seines Immunsystems zugefügt wurde. Im Kopf verglich ich die Zahl der Opfer vom Dienstag mit anderen Zahlen gewaltsamer Tode — in den dreißig Tagen vor dem 11. September kamen 3000 Amerikaner bei Verkehrsunfällen ums Leben — , glaubte ich doch, da ich die Bilder nicht gesehen hatte, es komme auf die Zahl an. Ich verwandte einige Energie darauf, mir vorzustellen bzw. der Vorstellung zu widerstehen, wie grauenhaft es gewesen sein musste, auf einem Fensterplatz in einer Maschine zu sitzen, die tief über dem West Side Highway flog, oder im 95. Stockwerk eingeschlossen zu sein und zu hören, wie die Stahlkonstruktion darunter plötzlich ächzt und knarrt, während das übrige Land ein tatsächliches Echtzeittrauma erlebte, indem es dieselben Beiträge immer wieder sah. Und so bedurfte ich der nationalen Fernseh-Gruppentherapie nicht — war mir ihrer eine Zeitlang nicht einmal bewusst — , nicht der marathonartigen Techno-Umarmung, die sich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten als Reaktion auf das Trauma entwickelte, Fernsehbildern ausgesetzt zu sein.
Was ich hingegen sah, war die plötzliche, mysteriöse, katastrophale Sentimentalisierung des öffentlichen Diskurses in Amerika. Und genauso, wie ich die Schuld dafür, dass Leute elterliche oder kindliche Zuneigung in ihr Telefon gießen und jeden Fremden in Hörweite mit Grobheiten überschütten, nun mal der Mobilfunktechnik gebe, gebe ich die Schuld an der nationalen Betonung des Persönlichen nun mal der Medientechnologie. Anders als etwa 1941, als die Vereinigten Staaten auf einen furchtbaren Angriff mit kollektiver Entschlossenheit, Disziplin und Opferbereitschaft antworteten, hatten wir 2001 fürchterliche Bilder. Wir hatten Amateuraufnahmen und konnten sie Bild für Bild analysieren. Wir hatten Bildschirme, auf denen die Gewalt in ihrer ganzen Brutalität in jedes Schlafzimmer im Land gebracht wurde, die Mailbox, die verzweifelte letzte Anrufe der Todgeweihten aufzeichnete, und wir hatten die neueste Psychologie, die unser Trauma erklärte und heilte. Darüber aber, was die Angriffe tatsächlich bedeuteten und wie eine vernünftige Reaktion darauf aussehen könnte, gab es unterschiedliche Ansichten. Das war das Wunderbare an der digitalen Technologie: Jetzt fand keine verletzende Zensur von Gefühlen mehr statt! Jeder hatte das Recht, seine oder ihre Meinung zu sagen! Ob Saddam Hussein den Entführern persönlich die Flugtickets gekauft hatte oder nicht, blieb daher Gegenstand lebhafter Debatten. Stattdessen waren sich alle darin einig, dass die Familien der Opfer vom 11. September das Recht hatten, Pläne für das Denkmal an Ground Zero zu befürworten oder abzulehnen. Und alle konnten den Schmerz der Familien der gefallenen Cops und Feuerwehrleute teilen. Und alle waren sich darin einig, dass die Ironie erledigt war. Die faule, leere Ironie der neunziger Jahre war nach 9/11 schlicht «nicht mehr möglich»; wir waren in ein neues Zeitalter der Aufrichtigkeit eingetreten.
Gut war, dass die Amerikaner 2001 zu ihren Kindern um einiges besser «Ich liebe dich» sagen konnten als ihre Väter oder Großväter früher. Aber wirtschaftlich mithalten? Sich als Nation zusammenreißen? Unsere Feinde schlagen? Starke internationale Bündnisse schließen? Daran fehlte es vielleicht doch ein wenig.
Meine Eltern lernten sich zwei Jahre nach Pearl Harbor kennen, im Herbst 1943, und binnen weniger Monate schickten sie einander Karten und Briefe. Mein Vater arbeitete bei der Great Northern Railway und war oft in Kleinstädten unterwegs, inspizierte oder reparierte Brücken, während meine Mutter in Minneapolis blieb und als Empfangsdame arbeitete. Der älteste seiner in meinem Besitz befindlichen Briefe an sie ist vom Valentinstag 1944. Er war gerade in Fairview, Montana, und meine Mutter hatte ihm eine Valentinskarte geschrieben, die im Stil aller ihrer Karten aus dem Jahr, das ihrer Hochzeit voranging, gehalten war: niedliche gemalte Babys, Kleinkinder oder Tierbabys, die niedliche Empfindungen ausdrückten. Vorn auf der Valentinskarte (die mein Vater ebenfalls aufbewahrte) sind ein kleines Mädchen mit Zöpfen und ein errötender kleiner Junge zu sehen, sie stehen nebeneinander, die Blicke züchtig abgewandt, die Hände verschämt auf dem Rücken.
Auf der Innenseite der Karte ist eine Zeichnung derselben Kinder, nun aber halten sie Händchen, und zu Füßen des Mädchens findet sich in Schreibschrift der Namenszug («Irene») meiner Mutter. Eine zweite Strophe lautet:
Der Antwortbrief meines Vaters trägt den Poststempel Fairview, Montana, 14. Februar.
Dienstagabend
Liebe Irene,
es tut mir leid, Dich am Valentinstag enttäuscht zu haben; ich habe noch daran gedacht, aber als ich dann im Drugstore keine fand, kam ich mir ein bisschen blöd vor, beim Kaufmann oder im Eisenwarenladen nachzufragen. Bestimmt haben sie auch hier schon vom Valentinstag gehört. Deine Karte hat perfekt zu der Situation hier gepasst, und ich weiß nicht, ob das Absicht oder Zufall war, aber ich glaube doch, dass ich Dir von unseren Schwierigkeiten mit den Steinen berichtet habe. Heute sind uns die Steine ausgegangen, daher wünsche ich mir kleine Steine, große Steine, Steine jeder Art, denn solange wir keine haben, können wir hier nichts tun. Ich kann hier ziemlich wenig machen, wenn die Baufirma arbeitet, und jetzt gar nichts. Heute bin ich zu der Brücke gelaufen, an der wir arbeiten, nur um die Zeit totzuschlagen und ein wenig Bewegung zu haben; sie ist ungefähr sechs Kilometer entfernt, was bei dem beißenden Wind ziemlich weit ist. Wenn wir morgen früh keine Steine geliefert bekommen, werde ich hier sitzen und was Philosophisches lesen; ich finde es nicht eben richtig, dass ich für einen solchen Tag auch noch bezahlt werde. Ungefähr die einzige andere Abwechslung hier besteht darin, in der Hotelhalle zu sitzen und den Stadttratsch mitzukriegen, und die alten Leute, die hierherkommen, haben einiges davon auf Lager. Du hättest Deine helle Freude daran, weil es hier so einen breiten Querschnitt des Lebens gibt — vom Landarzt bis zum Stadtsäufer. Und Letzterer ist wahrscheinlich am interessantesten. Wie ich gehört habe, hat er einmal an der Universität von N. D. unterrichtet, und er scheint wirklich ein ganz intelligenter Mensch zu sein, selbst wenn er betrunken ist. Normalerweise ist das Gerede hier ziemlich grob, ungefähr so, wie Steinbeck es als Vorlage genommen haben muss, aber heute Abend kam eine riesengroße Frau herein, die sich gleich häuslich einrichtete. Davon wird mir irgendwie klar, was für ein behütetes Leben wir Städter führen. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und fühle mich hier wie zu Hause, aber irgendwie sehe ich die Dinge jetzt anders. Du wirst noch mehr davon hören.