Ich hoffe, Samstagabend wieder in St. Paul zu sein, kann es jetzt aber noch nicht mit Sicherheit sagen. Wenn ich da bin, rufe ich Dich an.
In Liebe,
Kurz davor war mein Vater neunundzwanzig geworden. Schwer zu sagen, wie meine Mutter in ihrer Unschuld und ihrem Optimismus den Brief damals aufnahm, aber ganz allgemein und mit Blick auf die Frau, die ich nach und nach kennenlernen sollte, kann ich sagen, dass es in keiner Weise der Brief war, den sie von ihrem Liebsten haben wollte. Dass das niedliche Wortspiel in ihrem Valentine-Gedicht wortwörtlich als Bezug auf Schotter verstanden wurde? Und sie, der es ihr ganzes Leben lang vor der Hotelbar graute, in der ihr Vater als Barmann gearbeitet hatte, sie sollte ihre helle Freude daran haben, vom Stadtsäufer «grobes Gerede» zu hören? Wo waren die Koseworte? Wo die träumerischen Liebesgespräche? Es war klar, dass mein Vater noch eine Menge über sie lernen musste.
Für mich dagegen steckt sein Brief voller Liebe. Voller Liebe zu meiner Mutter jedenfalls: Er hat versucht, eine Valentinskarte für sie zu besorgen, er hat ihre Karte sorgfältig gelesen, er hätte sie gern bei sich, er hat Ideen, die er ihr mitteilen möchte, er schreibt ihr, dass er sie liebt, er wird sie anrufen, sobald er da ist. Voller Liebe aber auch zur weiteren Welt: zu den vielfältigen Menschen darin, zu kleinen und großen Städten, zu Philosophie und Literatur, zu harter Arbeit und fairem Lohn, zu Gesprächen, zum Denken, zu langen Märschen im beißenden Wind, zu sorgfältig gewählten Worten und perfekter Rechtschreibung. Der Brief erinnert mich an die vielen Dinge, die ich an meinem Vater liebte, seinen Anstand, seine Intelligenz, seinen unerwarteten Humor, seine Neugier, seine Gewissenhaftigkeit, seine Zurückhaltung und Würde. Nur wenn ich den Brief neben die Valentinskarte meiner Mutter mit ihren großäugigen Babys und der puren Sentimentalität halte, schwenkt mein Blick auf die Jahrzehnte gegenseitiger Enttäuschung, die auf die ersten Jahre folgten, Jahre halbwegs ungetrübten Glücks.
Später beklagte sich meine Mutter bei mir, mein Vater habe ihr nie gesagt, dass er sie liebe. Und im wörtlichen Sinn mag es auch sein, dass er ihr die drei großen Worte nie gesagt hat — ich jedenfalls habe sie ihn nie sagen hören. Aber dass er die Worte nie geschrieben hat, stimmt eindeutig nicht. Ich brauchte Jahre, um den Mut zu fassen, ihre alten Briefe zu lesen, und das lag unter anderem daran, dass der erste Brief meines Vaters, auf den ich nach dem Tod meiner Mutter einen Blick warf, mit einem Kosenamen begann («Irenie»), den ich ihn in den 35 Jahren, die ich ihn kannte, nie habe sagen hören, und mit einer Erklärung endete («Ich liebe Dich, Irene»), deren Anblick ich nicht ertragen konnte. Das klang überhaupt nicht nach ihm, und so vergrub ich alle Briefe in einer Truhe auf dem Dachboden meines Bruders. Viel später, als ich sie wieder hervorholte und es schaffte, sie ganz durchzulesen, entdeckte ich, dass mein Vater ihr tatsächlich Dutzende Male seine Liebe erklärt hatte, und zwar mit den drei großen Worten, bevor und nachdem er meine Mutter geheiratet hatte. Aber vielleicht war er dennoch, sogar damals, außerstande gewesen, die Worte auszusprechen, und vielleicht hatte er sie deshalb in der Erinnerung meiner Mutter nie «gesagt». Möglich auch, dass seine schriftlichen Erklärungen schon in den vierziger Jahren so merkwürdig und für ihn untypisch geklungen hatten wie für mich heute und dass meine Mutter sich in ihren Klagen an eine tiefere Wahrheit erinnerte, die nun von seinen scheinbar liebevollen Worten überdeckt war. Möglich, dass er sich in schuldiger Reaktion auf den Gefühlssturm, der ihn aus ihren Briefen anwehte («Ich liebe Dich aus ganzem Herzen», «Mit ach so viel Liebe» usw.), verpflichtet fühlte, seinerseits romantische Liebe sichtbar werden zu lassen oder es zumindest zu versuchen, so wie er (irgendwie) versucht hatte, in Fairview, Montana, eine Valentinskarte zu kaufen.
Both Sides Now, in der Version von Judy Collins, war der erste Popsong, der sich in meinem Kopf festsetzte. Als ich acht oder neun war, lief er ständig im Radio, und sein Verweis darauf, die Liebe «right out loud» zu erklären, trug in Verbindung damit, dass ich mich in Judy Collins’ Stimme verknallt hatte, dazu bei, dass die primäre Bedeutung von «Ich liebe dich» für mich eine sexuelle war. Dann durchlebte ich die siebziger Jahre und war in seltenen Gefühlsanfällen imstande, meinen Brüdern und vielen meiner besten Freunde zu sagen, dass ich sie liebte. Doch die ganze Grundschule und Junior High hindurch hatten diese Worte für mich nur eine Bedeutung. «Ich liebe dich» war der Satz, den ich vom süßesten Mädchen in der Klasse auf einen Zettel geschrieben sehen oder im Wald bei einem Schulpicknick geflüstert hören wollte. Es geschah in diesen Jahren nur zweimal, dass mir ein Mädchen, das ich mochte, das sagte oder schrieb. Aber wenn es geschah, war es wie ein Adrenalinstoß. Noch als ich aufs College ging und Wallace Stevens las, der sich, in «Le Monocle de Mon Oncle», über wahllos Liebesuchende wie mich lustig machte –
signalisierten mir diese ersehnten Worte weiterhin das Aufgehen eines Mundes, die Hingabe eines Körpers, die Verheißung berauschender Intimität. Und so war es höchst peinlich, dass derjenige Mensch, von dem ich diese Worte ständig hörte, meine Mutter war. Sie war die einzige Frau in einem Männerhaushalt, und sie lebte mit einem solchen Übermaß an nicht erwiderbaren Gefühlen, dass sie eben zu romantischen Ausdrücken dafür griff. Die Karten und Koseworte, mit denen sie mich bedachte, waren im Geist identisch mit denen, die sie einst meinem Vater hatte zukommen lassen. Lange vor meiner Geburt schon hatte mein Vater ihre Ergüsse als unerträglich kindisch empfunden. Für mich dagegen waren sie nicht annähernd kindisch genug. Ich betrieb einen ungeheuren Aufwand, ihre Erwiderung zu vermeiden. Viele Abschnitte meiner Kindheit, die langen Wochen, in denen wir beide allein zu Hause waren, überstand ich, indem ich mich an wesentliche Unterschiede in der Intensität zwischen den Wendungen «Ich liebe dich», «Ich liebe dich auch» und «Lieb dich» klammerte. Das wirklich Entscheidende für mich war, niemals «Ich liebe dich» oder «Ich liebe dich, Mom» zu sagen. Die am wenigsten schmerzhafte Alternative war ein gemurmeltes, praktisch unhörbares «Lieb dich». «Ich liebe dich auch» dagegen, wenn rasch gesprochen und mit hinreichender Betonung auf dem «auch», was eine Routinereaktion implizierte, half mir über so manchen peinlichen Moment hinweg. Ich erinnere mich nicht, dass sie mich wegen meines Gemurmels je zur Rede gestellt oder mir das Leben schwer gemacht hätte, wenn ich (was zuweilen vorkam) als Antwort wenig mehr als ein ausweichendes Grunzen aufbieten konnte. Aber sie erklärte mir auch nie, dass sie einfach gern «Ich liebe dich» sagte, weil ihr Herz von Gefühlen überfloss, und ich nicht meinen solle, ich müsse darauf jedes Mal mit einem «Ich liebe dich» antworten. Und so höre ich bis zum heutigen Tag immer, wenn ich von einem ins Handy geschrienen «Ich liebe dich» überfallen werde, eine Nötigung.
Obwohl mein Vater Briefe voller Lebendigkeit und Neugier schrieb, fand er nichts Schlimmes daran, meiner Mutter vier Jahrzehnte lang Kochen und Hausputz aufzuzwingen, während er sich seiner Erwerbstätigkeit draußen in der Männerwelt erfreute. Anscheinend ist es, in der kleinen Welt der Ehe ebenso wie in der großen des amerikanischen Lebens, die Regel, dass diejenigen ohne eine Erwerbstätigkeit sentimental sind und umgekehrt. Die verschiedenen Hysterien nach dem 11. September, die Landplage der «Ich liebe dich» s ebenso wie die weit verbreitete Furcht vor den Muselmanen und der Hass auf sie, das alles waren Hysterien der Machtlosen und Überwältigten. Hätte meine Mutter größere Entfaltungsmöglichkeiten gehabt, dann hätte sie ihre Gefühle vielleicht realistischer auf deren Objekte einstellen können.