Выбрать главу

So kalt, verklemmt oder sexistisch mein Vater nach heutigen Maßstäben auch erscheinen mag, bin ich doch dankbar, dass er mir nie explizit gesagt hat, dass er mich liebt. Mein Vater liebte die Privatsphäre, was bedeutet: Er respektierte den öffentlichen Bereich. Er glaubte an Zurückhaltung, Protokoll und Vernunft, weil ohne das seiner Überzeugung nach eine Gesellschaft unmöglich debattieren und Entscheidungen zu ihrem Besten fällen kann. Es wäre schön gewesen, zumal für mich, wenn er gelernt hätte, seine Gefühle meiner Mutter gegenüber mehr zu zeigen. Aber jedes Mal, wenn ich heute eines dieser ins Handy geschrienen elterlichen «Ich liebe dich» s höre, empfinde ich es als Glück, den Vater gehabt zu haben, den ich hatte. Er liebte seine Kinder über alles. Und zu wissen, dass er es so empfand und es nicht sagen konnte, zu wissen, dass er darauf vertrauen konnte, dass ich wusste, dass dem so war, und nie von ihm erwartete, dass er es sagte: Das war der Kern, war die Substanz der Liebe, die ich für ihn empfand. Einer Liebe, die ihm laut zu erklären ich wiederum immer sorgsam vermied.

Und dennoch: Das war der leichte Teil. Zwischen mir und dem Ort, an dem mein Dad jetzt ist — dem Grab — , kann nur noch Schweigen übermittelt werden. Niemand hat eine größere Privatsphäre als die Toten. Mein Dad und ich sagen einander jetzt nicht sehr viel weniger, als wir es in manchen Jahren zu seinen Lebzeiten taten. Der Mensch, den ich aktiv vermisse — mit dem ich im Geiste streite, dem ich Sachen zeigen will, den ich gern in meiner Wohnung sähe, über den ich mich lustig mache, dem gegenüber ich reumütig bin — , ist meine Mutter. Der Teil von mir, der sich über Handy-Störungen ärgert, stammt von meinem Vater. Der Teil, der mein BlackBerry mag, der alles leichter nehmen und sich der Welt anschließen will, stammt von meiner Mutter. Sie war die modernere der beiden, und obwohl nicht sie, sondern er der Erwerbstätige war, war sie am Ende doch aufseiten der Sieger. Wäre sie heute noch am Leben und wohnte noch in St. Louis, und würden Sie zufällig im Lambert Airport neben mir sitzen und wie ich auf eine Maschine nach New York warten, dann müssten Sie womöglich ertragen, mich sagen zu hören, dass ich sie liebe. Aber ich würde es leise sagen.

(Übersetzt von Eike Schönfeld)

David Foster Wallace

Bemerkungen beim Gedenkgottesdienst,

23. Oktober 2008

Wie viele Schriftsteller, aber sogar mehr noch als die meisten, wollte Dave alles unter Kontrolle haben. Chaotische gesellschaftliche Anlässe stressten ihn schnell. Ganze zwei Mal habe ich ihn ohne Karen auf einer Party gesehen. Zu der einen, die Adam Begley gab, musste ich ihn geradezu hinzerren, und kaum waren wir durch die Haustür, kaum ließ ich ihn nur kurz aus den Augen, machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück in meine Wohnung, um dort Tabak zu kauen und ein Buch zu lesen. Bei der zweiten blieb ihm nichts anderes übrig als zu bleiben, denn sie fand zur Feier des Erscheinens von Unendlicher Spaß statt. Er überstand sie, indem er sich immerzu und mit schmerzlich übertriebener Förmlichkeit bedankte.

Was Dave unter anderem zu einem außergewöhnlichen Hochschullehrer machte, war die formale Struktur dieser Tätigkeit. Innerhalb ihrer Grenzen konnte er gefahrlos aus seinen enormen Beständen an Freundlichkeit, Weisheit und Sachverstand schöpfen. Ähnlich gefahrlos war die Struktur von Interviews. War Dave selbst der Befragte, konnte er sich entspannt auf seinen Interviewer einstellen. War er der Journalist, arbeitete er am besten, wenn es ihm gelang, einen Techniker zu finden — einen Kameramann im Schlepptau von John McCain, einen Tontechniker bei einer Radiosendung — , der beglückt war, auf jemanden zu treffen, der sich für die Mysterien seines Berufs aufrichtig interessierte. Dave liebte Details um ihrer selbst willen, aber Details waren auch ein Ventil für die Liebe, die sich in seinem Herzen staute: ein Weg, um mit einem anderen Menschen auf einer relativ gefahrlosen Mitte eine Verbindung einzugehen.

Was ungefähr die Beschreibung der Literatur war, die er und ich Anfang der neunziger Jahre in unseren Gesprächen und Briefen entwickelten. Ich mochte Dave vom allerersten Brief an, den ich von ihm bekam, doch zunächst einmal, das war in Cambridge, versetzte er mich, als ich mich mit ihm treffen wollte. Und als wir uns dann regelmäßiger sahen, waren unsere Begegnungen oft anstrengend und gehetzt — weit weniger vertraut als unser Briefwechsel. Da ich ihn ja auf Anhieb mochte, wollte ich ihm immer unbedingt beweisen, wie lustig und klug ich sein konnte, aber er hatte so eine Art, auf einen weit entfernten Punkt zu starren, weswegen ich glaubte, ihm das nicht ganz vermitteln zu können. Nicht vieles in meinem Leben hat mir so sehr das Gefühl gegeben, etwas erreicht zu haben, wie wenn ich Dave zum Lachen brachte.

Diese «neutrale Mitte, auf der man eine tiefe Verbindung mit einem anderen Menschen eingehen kann» — das, so fanden wir, war der Sinn der Literatur. «Ein Weg aus der Einsamkeit heraus» war eine Formulierung, auf die wir uns einigen konnten. Und nirgendwo sonst konnte Dave totaler, phantastischer Kontrolle ausüben als in seiner geschriebenen Sprache. Von allen lebenden Schriftstellern besaß er die eindrucksvollste, die erregendste, die erfindungsreichste rhetorische Virtuosität. Weit hinten, bei Wort Nummer 70, 100 oder 140 in einem Satz in den Tiefen eines drei Seiten langen Absatzes voll makabrem Humor oder irrwitzig netzartiger Bewusstheit, roch man noch das Ozon knisternder Präzision in seiner Satzstruktur, des mühelosen und tonsicheren Wechsels zwischen zehn verschiedenen Ebenen hoher, niederer, mittlerer, technischer, hipper, nerdiger, philosophischer, umgangssprachlicher, komödiantischer, mahnender, beinharter, untröstlicher, lyrischer Diktion. Solche Sätze, solche Seiten waren, wenn er sie hervorzubringen vermochte, ein so wahres, so gefahrloses, so glückliches Zuhause, wie er es in den zwanzig Jahren, die ich ihn kannte, kaum je einmal gehabt hat. Ich könnte also Geschichten über die kleine Autotour voller Gezänk erzählen, die wir einmal unternahmen, oder von dem Wintergründuft, den sein Priem in meiner kleinen Wohnung verbreitete, wenn er mich besuchte, oder auch von unseren misslichen Schachpartien und den noch misslicheren Tennismatches, die wir manchmal spielten — die beruhigende Struktur der Spiele gegen die seltsamen Bruderrivalitäten, die tief darunter brodelten — , doch im Grunde war unsere Hauptsache das Schreiben. In all der Zeit, die ich Dave kannte, war meine intensivste Beschäftigung mit ihm die Lektüre seines Manuskripts von Unendlicher Spaß, allein in meinem Sessel, Abend für Abend, zehn Tage lang. Es war das Buch, in dem er zum ersten Mal sich selbst und die Welt so eingerichtet hatte, wie er sie eingerichtet haben wollte. Auf der mikroskopischen Ebene war Dave Wallace ein penibler und präziser Interpunkteur von Prosa wie kaum einer auf Erden. Auf der globalen schuf er tausend Seiten Weltklasse-Spaß, der, obwohl Ton und Eigenart des Humors nie schwankten, immer weniger lustig wurde, Passage um Passage, bis man am Ende des Buchs meinte, der Titel des Buchs hätte ebenso gut «Unendliche Traurigkeit» lauten können. Dave kriegte das hin wie keiner vor ihm.

Und nun hat sich dieser attraktive, brillante, witzige, freundliche Mann aus dem mittleren Westen, ein Mann mit einer umwerfenden Ehefrau, einem tollen Unterstützernetzwerk, einer tollen Karriere und einem tollen Job an einer tollen Uni mit tollen Studenten, also das Leben genommen, und wir Übrigen bleiben zurück und fragen (um aus Unendlicher Spaß zu zitieren): «Lass hören, Kumpel, was hast du denn zu erzählen?»