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Eine gute, schlichte, moderne Geschichte ginge so: «Eine liebenswerte, talentierte Persönlichkeit war Opfer einer schweren Störung des chemischen Gleichgewichts im Gehirn. Es gab den Menschen Dave, und es gab die Krankheit, und die Krankheit tötete den Menschen so sicher, wie es Krebs wohl getan hätte.» Diese Geschichte ist irgendwie wahr und zugleich vollkommen unzureichend. Gibt man sich mit ihr zufrieden, braucht man die Geschichten, die Dave geschrieben hat, nicht — schon gar nicht die vielen, vielen Geschichten, in denen die Dualität, das Getrenntsein von Mensch und Krankheit problematisiert oder gründlich verspottet werden. Es ist natürlich ein offensichtliches Paradox, dass Dave sich am Ende mit dieser schlichten Geschichte in gewisser Hinsicht selbst zufrieden gab und die Verbindung zu den interessanteren, die er in der Vergangenheit geschrieben hatte und möglicherweise in der Zukunft geschrieben hätte, kappte. Seine Suizidalität gewann die Oberhand und ließ alles in der Welt der Lebenden irrelevant werden.

Das heißt aber nicht, dass wir keine sinnhaften Geschichten mehr zu erzählen hätten. Ich könnte zehn verschiedene Versionen davon erzählen, wie er am Abend des 12. September ankam, einige wären sehr düster, einige sehr ärgerlich für mich, und die meisten würden Daves zahlreiche Anpassungen als Erwachsener, nach dem Beinahe-Tod durch einen Selbstmordversuch in seiner Jugend, berücksichtigen. Aber es gibt eine nicht so düstere Geschichte, von der ich weiß, dass sie wahr ist, und die ich jetzt erzählen möchte, weil es ein so großes Glück und Privileg und eine so unendlich interessante Herausforderung war, Daves Freund zu sein.

Für Leute, die alles unter Kontrolle haben möchten, kann Vertrautheit schwierig werden. Vertrautheit ist anarchisch, gegenseitig und definitionsgemäß unvereinbar mit Kontrolle. Man will alles kontrollieren, weil man Angst hat, und vor rund fünf Jahren hatte Dave, das war sehr deutlich zu spüren, dann keine solche Angst mehr. Das lag zum Teil daran, dass er sich am Pomona College in guten, stabilen Verhältnissen eingerichtet hatte. Und zu einem weiteren, wirklich riesigen Teil hing es damit zusammen, dass er endlich einer Frau begegnet war, die ihm guttat und zum ersten Mal die Möglichkeit eröffnete, ein erfüllteres, weniger rigide strukturiertes Leben zu führen. Wenn wir telefonierten, sagte er mir nun, dass ich ihm viel bedeutete, worauf ich plötzlich merkte, dass ich mich nicht mehr ganz so sehr anstrengen musste, ihn zum Lachen zu bringen oder zu beweisen, wie klug ich war. Karen und ich kriegten ihn tatsächlich für eine Woche nach Italien, und statt seine Tage im Hotel vor dem Fernseher zu verbringen, wie er es vielleicht noch ein paar Jahre davor getan hätte, aß er mittags auf der Terrasse Tintenfisch, trottete abends mit uns auf Dinnerpartys und fand sogar Gefallen daran, mit anderen Schriftstellern locker zusammenzusitzen. Er überraschte alle, am meisten vielleicht sich selbst. Es machte ihm richtig Spaß, und vielleicht hätte er es sogar wiederholt.

Ungefähr ein Jahr danach beschloss er, die Medikamente abzusetzen, die seinem Leben über zwanzig Jahre lang Stabilität verliehen hatten. Auch hier gibt es wieder eine Menge unterschiedlicher Geschichten darüber, warum genau er sich zu diesem Schritt entschied. Eines aber machte er mir in einem Gespräch sehr klar, nämlich dass er die Chance haben wollte, ein normaleres Leben mit weniger irrwitziger Kontrolle und mehr normaler Freude zu führen. Die Entscheidung fußte auf seiner Liebe zu Karen, auf seinem Wunsch, etwas Neues, Reiferes zu schreiben, und darauf, dass er einen kurzen Blick auf eine andersartige Zukunft geworfen hatte. Es war ein unglaublich beängstigender und mutiger Versuch von ihm, denn Dave war voller Liebe, aber auch voller Furcht — er hatte einen allzu leichten Zugang zu den Tiefen unendlicher Traurigkeit.

In dem Jahr ging es also auf und ab, im Juni hatte er eine Krise und dann einen sehr schweren Sommer. Als ich ihn im Juli sah, war er wieder dünn, wie in seiner späteren Jugend während seiner ersten großen Krise. Bei einem der letzten Male, die ich danach mit ihm sprach, im August, am Telefon, bat er mich, ihm eine Geschichte darüber zu erzählen, wie alles besser werden würde. Ich wiederholte vieles von dem, was er mir in unseren Gesprächen im Lauf des vorigen Jahres gesagt hatte. Ich sagte, er sei an einem schrecklichen und gefährlichen Punkt, weil er versuche, sich als Mensch und als Schriftsteller grundlegend zu ändern. Ich sagte, nach den Nahtoderfahrungen des letzten Mals habe er sehr schnell ein Buch geschrieben, das Lichtjahre entfernt gewesen sei von dem, was er vor seinem Zusammenbruch gemacht habe. Ich sagte, er sei ein sturer Kontrollfreak und Besserwisser — «Du aber auch!», blaffte er zurück — , und ich sagte, Leute wie wir fürchteten uns so sehr davor, die Kontrolle zu lockern, dass wir uns manchmal nur dazu bewegen könnten, uns zu öffnen und zu ändern, indem wir uns in tiefes Elend und an den Rand der Selbstzerstörung brächten. Ich sagte, er habe seine Medikamente deshalb abgesetzt, weil er erwachsen werden und ein besseres Leben haben wolle. Ich sagte, seine besten Werke lägen bestimmt noch vor ihm. Worauf er sagte: «Die Geschichte gefällt mir. Tust du mir den Gefallen und rufst mich alle vier, fünf Tage an und erzählst sie mir noch mal?»

Leider gab es nur noch eine Gelegenheit, ihm die Geschichte zu erzählen, und da hörte er sie schon nicht mehr. Er durchlitt scheußliche Ängste und Qualen, die ihn von einer Minute auf die andere überfielen. Als ich ihn danach anzurufen versuchte, nahm er gar nicht mehr ab und reagierte auch nicht auf Nachrichten. Er war in den Schacht der unendlichen Traurigkeit hinabgestiegen, von Geschichten nicht mehr zu erreichen, und er hat es nicht mehr herausgeschafft. Aber er hatte eine wunderschöne, sehnsuchtsvolle Unschuld, und er hat es versucht.

(Übersetzt von Eike Schönfeld)

Der chinesische Papageitaucher

Der Papageitaucher war ein Weihnachtsgeschenk von meinem Bruder Bob. Er steckte in einer unbeschrifteten Plastikhülle und sollte wohl eine Art Puppe oder Plüschtier sein. Er hatte einen flauschigen Körper und einen großen, orangefarbenen Schnabel, der danach schrie, gedrückt zu werden, und seine Augen saßen in schwarzen Felldreiecken, was ihm eine gewisse Trauer, Sorge oder beginnende Missbilligung verlieh. Der Vogel sprach mich sofort an. Ich stattete ihn mit einer komischen Stimme und Persönlichkeit aus und belustigte damit die Kalifornierin, mit der ich zusammenlebe. Ich schickte Bob einen begeisterten Dankesbrief, auf den hin er mir mitteilte, der Papageitaucher sei kein Spielzeug, sondern ein Golfzubehör. Er hatte ihn im Proshop vom Bandon Dunes gekauft, einem Golfhotel im Südwesten Oregons, um mich daran zu erinnern, wie viel Freude ich mit Golfspielen und Vogelbeobachten in Oregon haben könnte, wo er lebt. Der Papageitaucher war eine Golfschlägerhaube.

Mein Problem mit Golf ist, dass mir, obwohl ich es aus Geselligkeitsgründen ein-, zweimal im Jahr spiele, fast alles daran missfällt. Der Sinn dieses Spiels scheint mir in der methodischen Einschläferung arbeitstagsgroßer Zeitbrocken wohlhabender weißer Männer zu bestehen. Golf frisst Land, säuft Wasser, vertreibt Wildtiere, fördert Zersiedelung. Mir missfällt die Selbstgefälligkeit der Etikette, die aufgeblasene Ehrfurcht der Fernsehkommentatoren. Vor allem missfällt mir, wie schlecht ich Golf spiele. Rückwärts gelesen wird aus Golf «flog», was im Englischen prügeln, (Zeit) totschlagen heißt.

Immerhin besitze ich einen Satz billiger Schläger, aber es war ausgeschlossen, meinen Papageitaucher auf einen draufzustülpen. Die Kalifornierin pflegte ihn jeden Abend im Bett an sich zu drücken. Überhaupt hatte der Papageitaucher sich schnell zu einem kleinen Mitglied der Hausgemeinschaft gemausert. Draußen, in der Welt der Natur, litten die echten Papageitaucher (wie viele andere Seevögel) stark unter der Überfischung der Ozeane und der Verschlechterung ihrer Nistplätze, doch von New York aus konnte Natur etwas Kaltes und Abstraktes, nicht unbedingt Liebenswertes sein. Das Spielzeug war plüschig und konkret.