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In Jane Smileys großartigem Roman Die Grönland-Saga findet sich die Geschichte von einem altnordischen Bauern, der ein Eisbärjunges bei sich aufnimmt und wie einen Sohn großzieht. Zwar lernt der Bär Lesen, aber er bleibt eben doch ein Bär und hat den gewaltigen Appetit eines Bären, und nach und nach frisst er alle Schafe des Bauern auf. Der Bauer weiß, dass er den Bären loswerden muss, aber er bringt es nicht über sich, weil der Bär (dem Refrain der Geschichte zufolge) so ein schönes weiches Fell und so schöne dunkle Augen hat. Für Smiley ist der Bär die Metapher für eine destruktive Leidenschaft, zu angenehm, als dass man ihr widerstehen könnte. Aber die Geschichte funktioniert auch als schlichte Warnung vor sentimentaler Vergötterung. Der Homo sapiens ist dasjenige Tier, das entgegen dem rauen Naturgesetz glauben will, andere Tiere seien Teil seiner Familie. Ich kann ziemlich gute ethische Argumente für unsere Verantwortung gegenüber anderen Arten anführen, und dennoch frage ich mich manchmal, ob meine Sorge um die Artenvielfalt und das Wohlergehen der Tiere nicht vielleicht eine Art Regression in mein Kinderzimmer und dessen Gemeinschaft der Plüschtiere ist: eine Phantasie von Knuddeligkeit und artenübergreifender Harmonie. Smileys leidgeprüfter Bauer sieht sich schließlich gezwungen, seinem unersättlichen Bärenkind das Fleisch seines eigenen Arms anzubieten.

Im Spätherbst letzten Jahres, als die Times eine Serie langer Artikel über Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, Versteppung, Artensterben und Entwaldung in China brachte und ich es nicht schaffte, jeweils mehr als fünfzig Wörter zu lesen, gab es bei Football-Übertragungen einen irren Werbespot für den neuen Jeep. Ich meine den, in dem ein Eichhörnchen, ein Wolf, zwei Ohrenlerchen und ein Geländewagenfahrer auf einem leeren Highway durch unberührten Wald fahren und zusammen ein Lied singen. Besonders gut gefiel mir die Stelle, wo der Wolf eine der Lerchen verschlingt, sie auf einen missbilligenden Blick des Geländewagenfahrers hin unverletzt wieder ausspuckt und in das Lied einstimmt. Ich wusste sehr wohl, dass Geländewagen für Ohrenlerchen weit gefährlicher waren als Wölfe, ich wusste, dass meine Begehrlichkeiten hier dieselben wie die des wilden Tiers waren, das die Naturwelt in China und anderswo in Asien verschlang, und dennoch gefiel mir die Jeep-Werbung. Mir gefielen die sorgenvollen Augen und das weiche Fell meines Golfzubehörs. Ich wollte nicht wissen, was ich wusste. Und dennoch: Es nicht zu wissen ertrug ich auch nicht. Eines Nachmittags ging ich mit einer grimmigen Vorahnung ins Schlafzimmer, packte den Papageitaucher an den Flügeln, hielt ihn unter eine helle Lampe und drehte ihn auf links, und tatsächlich, da war das Etikett: HANDMADE IN CHINA.

Ich beschloss, jenen Teil der Welt aufzusuchen, aus dem der Papageitaucher kam. Das industrielle System, das den falschen Vogel geschaffen hatte, zerstörte echte Vögel, und ich wollte an einem Ort sein, an dem dieser Zusammenhang sich nicht verbergen ließ. Im Grunde wollte ich wissen, wie schlecht die Dinge standen.

Ich rief die amerikanische Firma auf dem Papageitaucher-Etikett an — Daphne’s Headcovers in Phoenix, Arizona — und redete mit der Chefin, Jane Spicer. Ich befürchtete, sie würde sich bezüglich ihrer chinesischen Quellen eher bedeckt halten, zumal im Lichte der jüngsten Skandale um chinesisches Spielzeug, doch weit gefehlt. Gleich bei unserem ersten Telefongespräch erzählte sie mir von ihrem Golden Retriever Aspen, ihrer zugelaufenen Katze Mango, ihrer verstorbenen Mutter Daphne (mit der sie, im Alter von zehn Jahren, die Firma gegründet hatte), ihrem Mann Steve, der den Produktionsbereich leitete, und von ihrem berühmtesten Kunden, Tiger Woods, dessen kuschelige Tiger-Schlägerhaube, Spitzname Frank, in einer Serie von Nike-Fernsehwerbespots 2003 und 2004 mitgewirkt hatte. Sie erzählte mir, dass Daphne, die aus England eingewandert war, Wert darauf gelegt habe, die Schlägerhauben von Einwanderern nähen zu lassen, und dass sie, Jane, einmal einige Arbeiterinnen an eine Frau ausgeliehen habe, die Katzenspielzeug herstellte und ihre Arbeiterinnen verloren hatte und unbedingt ihre Aufträge fertigstellen musste, und dass die Frau Jahre später, nachdem sie reich geworden war und Jane sie längst vergessen hatte, auf den rätselhaften Wegen des Karma bei Jane anrief und fragte: «Erinnern Sie sich an mich? Sie haben damals meine Firma gerettet. Ich habe mir überlegt, wie ich mich revanchieren kann, und möchte Sie gern mit einigen Freunden aus China bekannt machen.»

Daphne’s ist bei Tier-Schlägerhauben Weltmarktführer. Als ich die Zentrale in Phoenix, Arizona, besuchte, stellte Jane mir die Arbeiterinnen vor, die sie die «Zoo-Crew» nannte; sie prüfen die Schlägerhauben und sortieren sie nach Tierart in mit Plastik ausgeschlagene Kartons ein. Sie half mir bei der Suche nach den Papageitauchern, die, gestapelt in ihren Kartons, ungefähr so süß und lebendig wie Schmutzwäsche waren. Im Musterraum zeigte sie mir Kartons mit Imitaten und bündelweise angehefteten juristischen Dokumenten. «Die allermeisten Prozesse führen wir gegen amerikanische Unternehmen», sagte sie. «Häufig wissen die chinesischen Hersteller gar nicht, dass sie Gesetze brechen.» Der Tiger und die Taschenratte (die an Gopher aus dem Film Caddyshack — Wahnsinn ohne Handicap erinnerte) waren besonders beliebte Objekte geistigen Diebstahls. Auch eine Walross-Schlägerhaube war dabei, gefertigt aus dem dichten braunen Fell des echten Tiers. «Das sollte noch auf dem Tier sein, zu dem es gehört», sagte Jane streng. «Der Kerl, der das gemacht hat, wird vom Karma ereilt, aber erst kriegt ihn unser Anwalt zu fassen.»

Auf meine Frage, ob ich mich vielleicht sogar mit ihren Lieferanten in China treffen könne, antwortete Jane vage. In jedem Fall müsse ich wissen, dass die Arbeiter der chinesischen Lieferanten im Durchschnitt das Doppelte oder fast das Doppelte des örtlichen Mindestlohns verdienten. «Perfektion lassen wir uns etwas kosten», sagte sie, «und wir wollen dort ein gutes Karma — wir wollen glückliche Arbeiterinnen in einer glücklichen Fabrik.» Sie und Steve machten noch ein paar Entwürfe, aber mittlerweile überließen sie ihren chinesischen Partnern immer mehr. Steve maile von Phoenix aus eine Zeichnung, und eine Woche später hielten sie den Plüschprototypen in der Hand. Wenn er nach China reise, könne das Team dort noch vor dem Mittagessen einen Prototypen und am Ende des Arbeitstages einen überarbeiteten Prototypen herstellen. Die Sprache sei meistens kein Problem, allerdings habe Steve einmal Schwierigkeiten gehabt, dem chinesischen Team die «Seepocken» eines Grauwals zu erklären, und einmal sei ein Angestellter mit einer merkwürdigen Frage zu ihm gekommen: «Warum möchten Sie, dass alle Tiere zornig aussehen?» Steve antwortete, nein, im Gegenteil, er und Jane wollten, dass die Tiere glücklich aussähen und die Leute, die sie anfassten, glücklich würden. Das Wort, das jemand mit zornig falsch übersetzt hatte, war realistisch.

«Erst die Arbeit, dann das Vergnügen», ermahnte mich David Xu fröhlich an meinem ersten offiziellen Tag in China. Xu war vom Amt für Auswärtige Angelegenheiten in der boomenden Stadt Ningbo, rund zweihundert Kilometer südlich von Shanghai, und unsere «Arbeit» bestand darin, in einem Miet-Van von einer Fabrik zur nächsten zu rasen. Von der Rückbank aus hatte ich den Eindruck, dass jeder Zentimeter des Großraums Ningbo sich simultan im Bau oder Wiederaufbau befand. Mein extrem neues Hotel war im Hinterhof eines lediglich sehr neuen, nur wenige Meter entfernten Hotels errichtet worden. Die Straßen waren modern, aber sehr löcherig, als wäre allen klar, dass sie ohnehin bald wieder aufgerissen würden. Die Landschaft gärte von Neuerungen; in manchen Dörfern war kaum ein Haus zu finden, vor dem kein Sandhaufen oder Backsteingebinde lag. Auf Ackerland sprossen Fabriken, und vor den weniger neuen Fabriken stiegen die eingerüsteten Stützsäulen künftiger Überführungen empor. Die Wachstumsrate, die Ningbo in den letzten Jahren hatte — rund vierzehn Prozent — , erschöpfte einen schnell, allein vom Hinsehen.