Wie um mich mit frischer Energie zu versorgen, drehte Xu sich auf dem Vordersitz um und betonte mit einem breiten Lächeln: «China ist Entwicklungsland.» Xu hatte schöne Zähne. Er hatte die modisch eckige Brille und den gewinnenden Eifer eines Literaturprofessors mit befristeter Stelle, und er war reizend und offen für jedes nur denkbare Thema — den Mangel selbst rudimentärer Fahrkenntnisse unseres Fahrers, die lange und wechselvolle Geschichte der Homosexualität in China, die unheimliche Plötzlichkeit, mit der alte Viertel in Ningbo geschleift und ersetzt wurden, selbst die Dummheit der Drei-Schluchten-Talsperre am Jangtse. Xu enthielt sich sogar freundlicherweise der Frage, was ich zwischen meiner Ankunft in Shanghai vor sieben Tagen und meinem offiziellen Eintreffen in Ningbo am vorigen Nachmittag getan hätte. Um diese Freundlichkeit zu erwidern, bemühte ich mich, gesteigertes Interesse selbst an den ganz offensichtlich unrepräsentativen Fabriken zu zeigen, zu denen er mich brachte, wie etwa der des Automobilherstellers Geely, eines stolzen Pioniers grüner Produktionsmethoden wie «Wasser-Schmelz»-Lackierung («‹Grün› bedeutet umweltfreundlich», sagte Xu), und des Spritzgießmaschinenherstellers Haitian, wo die Arbeiter durchschnittlich neuntausend Dollar jährlich mit nach Hause nähmen (Xu: «Das ist das Doppelte von dem, was ich verdiene!») und viele mit dem eigenen Wagen pendelten.
Das Vergnügen nach der Arbeit, das Xu mir versprochen hatte, bestand in einer VIP-Fahrt über die fast fertiggestellte Brücke über die Hangzhou-Bucht — mit sechsunddreißig Kilometern die längste Meeresbrücke der Welt. Doch bevor wir sie erreichten, mussten wir uns noch ansehen, wie Karosserieteile von Geländefahrzeugen lackiert, Motorradräder gefräst und in der blühenden Stadt Cixi «Baumwoll»-Fasern aus Acryl extrudiert und genial verarbeitet wurden; in dieser Stadt, wo sich der Export im Vorjahr auf vier Milliarden Dollar belief, gibt es zwanzigtausend Privatfirmen und nur ein staatliches Unternehmen, und so viele Einheimische besitzen oder leiten Fabriken, dass die Zahl der Wanderarbeiter, die die niederen Arbeiten verrichten müssen, fast jener der ansässigen Bevölkerung entspricht. Ich hatte viel über Wanderarbeiter gelesen, und ich wusste, dass sehr viele von ihnen noch keine zwanzig waren, trotzdem war ich nicht darauf gefasst, wie jung sie wirkten. In der Acrylfaserfabrik hätten die vier Arbeiter, die das Kommandozentrum bedienten, auch aus einem Klassenzimmer der Zehnten stammen können. Sie saßen da und starrten auf Flachbildschirme, auf denen Flussdiagramme und Streaming-Daten flirrten, zwei Jungen und zwei Mädchen in Jeans und Turnschuhen, die nicht viel mehr kommunizierten als den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden.
Die Sonne ging schon unter, als wir die Brücke über die Hangzhou-Bucht erreichten. Der Großteil ihrer Gesamtkosten (rund 1,7 Milliarden Dollar) wurde von der Stadt Ningbo bestritten, die ein riesiges neues Industriegebiet unmittelbar im Osten erschloss. Die Brücke wird die Fahrtzeit zwischen Shanghai und Ningbo halbieren; nach ihrer offiziellen Eröffnung im Mai [2008] wird das olympische Feuer auf ihr hinübergetragen, Richtung Peking, zur grünen Olympiade. Das einzige Tier- oder Pflanzenleben, das ich auf unserer Hin- und Rückfahrt entdeckte, war ein Möwenpaar, das schnell davonflog. Alle fünf Kilometer wechselte die Farbe des Geländers, zur Bekämpfung der Monotonie. Auf der Mitte der Brücke stieg ich aus und betrachtete die aufgewühlte graue Tide, die gegen Betonpfeiler brandete, auf denen ein Restaurant und ein Hotel gebaut wurden. Ich bekam große Sehnsucht danach, weitere Vögel zu sehen, egal welche.
Laut meinem Visumantrag war der Zweck meiner Reise nach Ningbo die Erkundung der chinesischen Warenproduktion für den amerikanischen Export, aber ich hatte Xu wohlweislich auch mein großes Interesse an Vögeln mitgeteilt. Um mir eine Freude zu machen und den Tag abzurunden, dirigierte er nun unseren Fahrer von der Brücke nach Westen in ein Gelände aus Schilfbeeten und Teichen, das die Stadtverwaltung von Cixi als Naturfläche bewahrt hatte. Ein Großteil des Gebiets war kürzlich niedergebrannt worden, und alles sei, so Xu, für die Umwandlung in einen «Feuchtgebietpark» vorgesehen.
Einer dieser Feuchtgebietparks war mir schon Anfang der Woche in Shanghai begegnet. Ich mühte mich nach Kräften, begeistert zu klingen.
«Normalerweise sieht man hier Mandschurenkraniche», versicherte Xu mir auf dem Vordersitz. «Die Regierung pflanzt Bäume an, um den Vögeln Schutz vor den Elementen zu bieten.»
Ich hatte das Gefühl, dass er ein wenig improvisierte, aber ich war ihm dankbar dafür. Wir fuhren an Wattgebieten von derartiger Ödnis vorbei, dass man meinen konnte, sie stammten noch aus der Zeit vor der Entstehung mehrzelligen Lebens. Wir überquerten einen breiten Kanal, auf dem ich vier Enten oder Haubentaucher zu sehen glaubte, aber es waren nur Plastikflaschen. Wir kamen an einer «Öko-Farm» vorbei, die aus Fischteichen bestand, darum herum Ferienhäuschen. Endlich störten wir im schwindenden Licht einen Schwarm Nachtreiher aus einem dicht bewachsenen Sumpf auf. Wir verließen den Wagen und sahen ihnen zu, wie sie immer näher zu uns her kreisten. David Xu war außer sich vor Freude. «Jonathan!», schrie er. «Sie wissen, dass du Vogelbeobachter bist! Sie heißen dich willkommen!»
In der Woche davor, nach meiner Ankunft in Shanghai, war mein erster Eindruck, dass China das fortgeschrittenste Land war, das ich je betreten hatte. Die Dimensionen von Shanghai, das aus der Luft ausgesehen hatte wie eine vollkommen platte Ebene mit Zehntausenden säuberlich aufgereihten rechteckigen Häusern — von denen sich jedes bei näherem Hinsehen als großer Wohnblock erwies — , und dann, auf der Erde, die brutal neuen Wolkenkratzer, die fußgängerfeindlichen Straßen und die künstliche Abenddämmerung des raucherfüllten Winterhimmels: Das alles hatte was. Es war, als hätten die Götter der Weltgeschichte gefragt: «Will jemand mal so richtig in der Scheiße sitzen?», und diese Stadt hätte die Hand gehoben und gesagt: «Ja!»
Eines Nachmittags war ich in einem Mietwagen mit drei einheimischen chinesischen Vogelbeobachtern in den Norden von Shanghai gefahren. Die künstliche Abenddämmerung hatte schon vor Stunden begonnen, aber richtig dunkel wurde es just in dem Moment, als wir uns am Rand des Naturreservats Yancheng aus dem Wagen zwängten und dem Vogelführer namens M. Caribou auf einem kleinen Feldweg folgten. Die Temperatur lag unter null. Die einzigen Farben waren verschieden dunkle Blaugrautöne. Ein nicht zu identifizierender Vogel brach aus Sträuchern hervor und flog tiefer in die Nacht hinein.
«Wohl eine Ammer», spekulierte Caribou.
«Es ist ja ziemlich dunkel», sagte ich schlotternd.
«Wir wollen das letzte Licht nutzen», sagte die schöne junge Frau, die sich Stinky nannte.
Es wurde noch dunkler. Unmittelbar vor mir stöberte der junge Mann namens Shadow einen, wie er sagte, Fasan auf. Ich hörte es und schaute mich hektisch um, versuchte, Konturen zu unterscheiden. Caribou führte uns an dem Wagen vorbei, in dem unser Fahrer bei voll aufgedrehter Heizung saß. Wir liefen blindlings eine Böschung hinab in ein Wäldchen aus stockartigen Bäumen, deren bleiche Rinde das Unterholz noch dunkler erscheinen ließ.
«Und was machen wir hier?», sagte ich.
«Könnten Waldschnepfen sein», sagte Caribou. «Die mögen feuchten Boden, wo die Bäume nicht zu dicht beieinanderstehen.»