Wir polterten in der Dunkelheit herum und hofften auf Waldschnepfen. Oben auf der Straße, zehn Meter von uns entfernt, rauschten Minibusse und Kleinlaster vorbei, schlingernd, hupend und Staub aufwirbelnd, den ich zwar schmeckte, aber nicht sah. Wir blieben stehen und horchten angespannt auf ein zwitscherndes Lied, das sich aber als Kugellagergeräusch eines nahenden Fahrrades erwies.
Stinky, Shadow und M. Caribou gebrauchten ihre Netz-Namen, wenn sie Englisch redeten. Stinky war Mutter einer Fünfjährigen und hatte vor zwei Jahren angefangen, Vögel zu beobachten. Per E-Mail hatten sie und ich einen Besuch des größten Naturreservats an der chinesischen Küste, Yancheng, vereinbart, und sie hatte mich überredet, statt eines offiziellen Führers ihren Freund Caribou zu engagieren, der für die Vogelsuche siebzig Dollar pro Tag verlangte. Ich hatte Stinky gefragt, ob ich sie tatsächlich Stinky nennen solle, und sie hatte es bejaht. Mit schwarzer Fleecemütze, Nylonmantel und Tourenhose, ebenfalls aus Nylon, war sie zu meinem Hotel gekommen. Ihr Freund Shadow, ein Biologiestudent mit einer geliehenen Wildkamera und jeder Menge Zeit, trug einen Daunenparka und eine dünne Kordhose. Die Fahrt führte uns zunächst durchs Herz des Jangtse-Deltas, das inzwischen fast zwanzig Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Eine riesige Ebene mit Industrieanlagen, mittelhohen Wohnblocks und isolierten Streifen Ackerbau folgte auf die andere. Am südlichen Horizont zeigte sich beständig, gleich einer Fata Morgana in dem Winterlicht, ein mythisch überdimensionaler Bau — ein Kraftwerk, ein gläserner Finanztempel, ein steroidal aufgeblähter Restaurant-Hotel-Komplex, ein … Getreidespeicher?
Caribou, auf dem Vordersitz, suchte den Horizont mit gedämpfter Wachsamkeit ab. «Das Wort öko ist heutzutage in China sehr beliebt, man begegnet ihm überall», kommentierte er. «Aber richtig öko ist es gar nicht.»
«Bis vor vier, fünf Jahren hat in China überhaupt noch niemand Vögel beobachtet», sagte Stinky.
«Nein — das ist länger her», sagte Shadow. «Zehn Jahre!»
«Aber nur vier oder fünf Jahre in Shanghai», sagte Stinky.
Nördlich des Jangtse, in der Region mit Namen Subei, fuhren wir lange durch dichtbevölkerte, heruntergekommene Vorstädte, bis ich begriff, dass es sich gar nicht um Vorstädte handelte, sondern dass Subei eben so aussah. Die Häuser waren klotzig, ungestrichen, aufdringlich; nur die Dachlinien, die durchweg in einem kümmerlichen fernöstlichen Aufwärtsschwung endeten, boten ansatzweise ästhetische Erleichterung. Wir fuhren an Kanälen entlang, die mit dicken Schichten treibenden Mülls überzogen und zu beiden Seiten mit noch dickeren Ablagerungen gesäumt waren; Weiß und Rot waren die dominierenden Farben des Mülls, aber es gab auch sonnengebleichte Plastikäquivalente in jeder anderen Grundfarbe. Nur selten sah ich einen Baum, dessen Durchmesser mehr als zwanzig Zentimeter betrug. Gemüse war in engen Reihen auf Straßenböschungen, in den Gängen zwischen den zahlreichen Stockbäumen, auf Verkehrsdreiecken und bis dicht an die Wände eines jeden Gebäudes angepflanzt.
Nachdem selbst Caribou zugeben musste, dass es Nacht geworden war, verließen wir das Reservat und fuhren in das Dorf Xinyanggang. Die zweistöckigen Häuser bestanden aus schmucklosem Beton und Ziegeln. Was es an Licht gab, kam hauptsächlich von schwachen Lampen in Geschäften, deren Auslagen zur Straße hin lagen. Beim Essen — in einem Raum, wo der Heizlüfter an der Decke bitterkalte Luft ausstieß — erzählte mir Caribou, wie er zu einem der ersten professionellen Vogelführer der Volksrepublik geworden war. Schon als Kind, sagte er, habe er Tiere gemocht und dann als Student manchmal Vögel gezeichnet und seine Naturnotizen an Studienkollegen gemailt. Aber ohne ein vollständiges, illustriertes Handbuch der chinesischen Vögel könne man unmöglich ein echter Vogelbeobachter sein, und das erste, nämlich das von John MacKinnon und Karen Phillipps, sei erst 2000 erschienen. Caribou kaufte es sich 2001. Zwei Jahre später trat er eine Stelle als Fluglotse in Shanghai an. «Das war ein toller Job», ergänzte Stinky. Caribou selbst war aber nicht der Meinung gewesen. Er fand die langen Nächte und die ständigen Streitereien mit den Piloten und den Chefs der Fluglinien schrecklich; sogar mit Passagieren, die ihn von ihrem Handy aus anriefen, hatte er sich auseinandersetzen müssen. Am meisten klagte er aber darüber, dass der Beruf mit ernsthafter Vogelbeobachtung unvereinbar war. «Manchmal, eine oder sogar zwei Wochen lang», sagte er, «kam ich überhaupt nicht zum Schlafen, es gab immer nur Vögel und Arbeit.»
«Aber du konntest kostenlos in andere Städte fliegen!», sagte Stinky.
Das sei richtig, räumte Caribou ein. Aber sein Dienstplan habe ihm nie mehr als einen ganzen Tag in einer Stadt gestattet, daher habe er gekündigt. Während der letzten zweieinhalb Jahre hatte er sich seinen Unterhalt als freiberuflicher Vogelforscher und — führer verdient. Stinky, die unlängst Facebook entdeckt hatte, versuchte Caribou dazu zu bringen, eine Seite einzurichten, damit er auch im Ausland Werbung für sich machen konnte. Vielen Europäern und Amerikanern, sagte sie, sei nicht klar, dass es so etwas wie chinesische Vogelbeobachter überhaupt gebe, von chinesischen Vogelführern mal ganz abgesehen. Als ich Caribou fragte, wie viele Tage er 2007 als Führer gearbeitet habe, rechnete er stirnrunzelnd nach. «Weniger als fünfzehn», sagte er.
Am nächsten Morgen um halb sieben, nach einem Frühstück aus Nudeln und mit pikantem Gemüse gefüllten Reisküchlein, fuhren Stinky, Shadow, Caribou und ich wieder ins Reservat. Wie viele chinesische Reservate ist das von Yancheng aufgeteilt in einen stark geschützten «Kernbereich» und einen größeren «Außenbereich», in dem Besucher mit Fernglas geduldet werden und Einheimische wohnen und arbeiten dürfen. In ganz Ostchina gibt es sehr wenige unberührte Lebensräume, in Yancheng finden sich gar keine. Der Außenbereich wird offenbar bis auf den letzten Hektar für Fischfarmen, Reisfelder, Straßenplanierungen, Gräbenbau, Schilfschneiden, Hausumbauten, alle möglichen größeren Erdarbeiten und Betongießen genutzt. Caribou führte uns zu Mandschurenkranichen (buschiger Schwanz, majestätisch, gefährdet), Jangtsepapageischnäbeln (winzig, lustiges Gesicht, bedroht) und meiner Zählung nach vierundsiebzig weiteren Vogelarten. Wir suchten nach Ammern an einem Kanal, der von einer Arbeiterbrigade verbreitert und befestigt wurde; sie kamen auf Motorrädern herangeknattert und fragten, ob wir Fasane jagten. Das ist eine übliche Frage in China, wo Vogelbeobachter es auch gewohnt sind, dass man sie mit Landvermessern verwechselt oder ihnen sagt: «Hier gibt’s keine Vögel», und sie fragt: «Ist der Vogel, den ihr da anseht, teuer?»
Neben einem Transparent, das unheilverheißend dazu aufforderte: DAS LAND ENTWICKELN, DIE FEUCHTGEBIETE SCHÜTZEN, ZUR WIRTSCHAFT BEITRAGEN, und einem Bauern, der das Fundament für eine Scheune mit der Schaufel aushob, sahen wir einen Keilschwanzwürger. Wir fielen in den Garten einer Familie ein, die herausgekommen war, um zwei Männern zuzusehen, die sich an einer Transformatorenstation zu schaffen machten, während sieben Meter entfernt, bei einem Haufen Schlackensteine, ein phantastischer, schwarz-weiß gestreifter Wiedehopf mit einer irren Haube im Gras stöberte. Auf dem Gelände eines Reservoirs, wo Caribou gerade zwei Monate zuvor Wasservögel gesichtet hatte, hielten wir neben einem sehr gut aussehenden Mann auf einem Motorrad, der uns unerbittlich anlächelte, während Caribou befand, dass das Gelände für Fischfarmen planiert und nun von Vögeln entvölkert war. Wir beendeten den Tag damit, nahe dem Touristenzentrum des Reservats zwischen Bäumen und Buschwerk umherzustreifen. Dort gab es auf einer Straßenseite kostenlos einen einsamen Straußen zu sehen, und auf der anderen konnte man für vier Dollar ein paar zahme Mandschurenkraniche betrachten, die teilnahmslos in einem Gatter mit gelbem Gras und schmutzigem Wasser standen, und einen Turm ersteigen, von dem aus der Kernbereich des Reservats in der Ferne zu sehen war.