In Kalifornien gezeugt und auf den Namen Benjamin Franklin getauft, war Wedekind der Sohn einer umherreisenden jungen Sängerin und Schauspielerin und eines doppelt so alten, politisch radikalen Arztes. Seine Mutter hatte Europa mit sechzehn Jahren verlassen, um ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Valparaíso in Chile zu folgen. Der Schwager geriet bald in finanzielle Not, welche die beiden Schwestern linderten, indem sie als Sängerinnen entlang der Küste Süd- und Mittelamerikas tourten, und als die Schwester an Gelbfieber starb, zog Franks Mutter nach San Francisco und unterstützte die Familie des Schwagers durch ihre Arbeit als Bühnendarstellerin. Sie war zweiundzwanzig, als sie Dr. Friedrich Wedekind heiratete, der kurz nach den unterdrückten politischen Revolten von 1848 aus Deutschland ausgewandert war. Zurück in Deutschland — dort wurde Frank 1864 geboren — , gab Friedrich seine Arztpraxis auf und widmete sich ganz der politischen Agitation. Die Stimmung im Land wurde, unter Bismarck, jedoch zunehmend feindselig, und so ließ sich die Familie 1872 schließlich in einem kleinen Schloss in der Schweiz nieder.
Die Wedekinds führten zwar eine stürmische Ehe, aber die Familie war groß und hochgebildet und hielt eng zusammen. Frank wurde zu Hause wie in der Schule gemocht. Als er das Gymnasium verließ, schrieb er bereits Theaterstücke und Gedichte sowie Lieder, zu denen er sich selbst auf der Gitarre begleitete. Er war zu einem radikalen Atheisten geworden, auf ungeschliffene Weise gut angepasst und zugleich ganz und gar untauglich für eine herkömmliche Anstellung und ein bürgerliches Leben. Mit seinem Vater stritt er sich so heftig über seine berufliche Zukunft, dass er den alten Mann schließlich tätlich angriff und nach München ging, um Schriftsteller zu werden. Frühlings Erwachen schrieb er im Winter 1890/91, am Ostersonntag war das Stück fertig. In den folgenden fünfzehn Jahren arbeitete er daran, sich in der Theaterwelt beliebt zu machen und dafür zu sorgen, dass seine Stücke aufgeführt wurden. Zu seinen Freunden gehörten ein zwielichtiger Kunsthändler und Zirkuskünstler, Willy Rudinoff, berühmt als Feuerschlucker und Vogelgesangsimitator. Einmal versuchte Wedekind, einen Zirkus zur Darbietung eines seiner Werke zu bewegen. Er gründete ein Münchner Kabarett namens «Die Elf Scharfrichter», in dem er auch selber auftrat. Im Lauf der Jahre stand er immer häufiger auf der Bühne, sowohl, um seine Beziehungen zu den Theatern zu festigen, als auch in zunehmendem Maße, um den antinaturalistischen Rhythmus vorzuführen, in dem seine späteren Stücke gesprochen werden sollten. 1906, als sich endlich Erfolg und Ruhm einstellten, heiratete er eine sehr junge Schauspielerin, Tilly Newes, die er für die Rolle der Lulu in seinen Stücken Die Büchse der Pandora und Erdgeist (die spätere Grundlage für Alban Bergs Oper Lulu) ausgebildet hatte. Das Paar hatte zwei Töchter; sie behielten Wedekind als einen Vater in Erinnerung, der Kinder mit außergewöhnlichem Respekt behandelte, so als gäbe es zwischen ihnen und den Erwachsenen keinen signifikanten Unterschied.
In den Jahren des Ersten Weltkriegs erkrankte Wedekind, zum Teil infolge der Strapazen der Schauspielerei, und starb 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation. Auf seiner Beerdigung in München gab es einen Aufruhr, der eines Rockstars würdig gewesen wäre. Viele illustre Köpfe der deutschen Literatur, darunter der junge Bertolt Brecht, waren gekommen, aber auch eine Meute der Jungen und Seltsamen und Irren — Angehörige einer kulturellen und sexuellen Boheme, die in Wedekind einen Verrückten sahen, der den Mut hatte, seine Verrücktheit auszuleben — , und diese Trauernden stürmten nun über den Friedhof, um gute Plätze am offenen Grab zu ergattern. Ein labiler Dichter namens Heinrich Lautensack, einer der Elf Scharfrichter, warf einen Rosenkranz auf den Sarg, sprang hinterher und schrie: «Für Frank Wedekind, meinen Lehrer, mein Vorbild, meinen Meister, von deinem unwürdigsten Schüler!», während einer seiner Freunde, ein Filmemacher aus Berlin, das Ganze für die Nachwelt aufnahm. Der exhibitionistische Trauergast und sein Komplize, der Kameramann: Die Rock-and-Roll-Welt war schon in Sicht.
Ein brauchbares Beispiel für die fortdauernde Gefährlichkeit und Vitalität von Frühlings Erwachen war die abgeschmackte Musical-Fassung, die 2006, hundert Jahre nach der Welturaufführung des Theaterstücks, am Broadway Premiere hatte und augenblicklich mit Lob überschüttet wurde. Das Skript, von Wedekind 1891 fertiggestellt, war sexuell viel zu freizügig, um auf irgendeiner spätviktorianischen Bühne gespielt werden zu können. Als es schließlich, fünfzehn Jahre später, doch in Theatern auftauchte, wollte keine Stadtverwaltung in Deutschland oder anderswo es unzensiert durchgehen lassen. Und doch sind selbst die grausamsten Beschneidungen von damals harmloser als die Verstümmelung, der ein gefährliches Drama auf dem Weg zu einem zeitgenössischen Kassenschlager heute unterzogen wird.
Der händeringende junge Moritz Stiefel, den Wedekind eines schlechten Zeugnisses wegen Selbstmord begehen lässt, verwandelt sich in der Musical-Fassung in einen Punkrocker von solchem Talent und Charisma, dass die Vorstellung, er könnte sich von einem schlechten Zeugnis deprimieren lassen, ziemlich abwegig scheint. Die beiläufige Vergewaltigung Wendla Bergmanns durch die Hauptfigur des Stücks, Melchior Gabor, wird zu einem donnernden Spektakel der Ekstase und des Einverständnisses. Und wo Wedekind den jungen, sinnlichen Hänschen Rilow der Masturbation widerstehen, ihn voller Widerstreben ein pornographisches Bild, das an seinem «armen Hirn zu zehren» droht, zerstören lässt, wird uns im 21. Jahrhundert eine choreographierte Orgie lustvollen Penispumpens und Samenschleuderns dargeboten. Ohne etwas Obszöneres zu brauchen als ein paar witzige, gewagte Doppeldeutigkeiten, brachte Wedekind Hänschens Not genau auf den Punkt. Er wusste, dass die Scham des Masturbierenden vor allem durch die Einsamkeit geschürt wird, erfasste die seltsam persönliche Zärtlichkeit des Masturbierenden für das virtuelle Objekt, verstand die zersetzende Autonomie sexueller Bilder; doch all das wäre für unsere pornogetränkte Modernität unangenehm relevant, und so ist das Musical genötigt, Wedekind zu zensieren und Hänschens Qualen als etwas lediglich Schmutziges darzustellen. (Das Ergebnis ist auf die gleiche Art «lustig», wie schlechte Sitcoms «lustig» sind: Zuschauer brechen bei jeder Erwähnung von Sex in nervöses Gelächter aus, um daraus, dass sie sich selber lachen hören, den Schluss zu ziehen, das Gesehene müsse wahnsinnig komisch sein.) Und was das Arbeiterkind Martha Bessel betrifft, das im Originalstück von seinem Vater geschlagen und von der bürgerlichen Masochistin Wendla Bergmann glühend um diese Schläge beneidet wird: Was könnte im Jahre 2006 anderes aus ihr werden als ein geradezu heiliges junges Sinnbild sexuellen Missbrauchs? Ihre loyalen schwesterlichen Freundinnen stimmen mit ein, wenn sie «Was sich nicht erzählen lässt» («The Dark I Know Well») singt, eine Hymne auf den Kummer, für Erwachsene geschlechtlich interessant zu sein. An die Stelle der beängstigenden Nüchternheit, mit der Martha von ihrem Leben zu Hause erzählt (sie werde nur geschlagen, sagt sie, «wenn etwas Besonderes vorliegt»), tritt ein dichter moderner Nebel aus Sentimentalität und Arglist. Ein Team von Erwachsenen produziert ein Musical, dessen wesentliches Verkaufsargument Teenagersex ist (die ersten Broadway-Plakate zeigten, wie der Hauptdarsteller die Hauptdarstellerin besteigt) und dessen junge weibliche Charaktere ihrem überwiegend erwachsenen Publikum erst vorjammern, sie seien böse Mädchen und Liebes-Junkies, um kurze Zeit später davon zu singen, wie schrecklich und ganz ungerecht schmerzhaft es sei, als Teenager eine Sexualität zu besitzen, die Erwachsene fasziniert. Wenn der Weg von Bratz-Puppen über Britney-Klamotten dazu führt, dass ein Mädchen sich schließlich fühlt wie ein Stück Fleisch, das jemand anderem gehört, kann selbstverständlich nicht die kommerzielle Kultur schuld daran sein, denn die hat ja einen so tollen, rockenden Soundtrack, und niemand versteht Teenager besser als sie, niemand bewundert sie mehr, niemand arbeitet härter daran, dass sie sich authentisch fühlen, niemand besteht unermüdlicher darauf, dass junge Konsumenten immer recht haben, ob als Helden oder Opfer der Moral. Also muss etwas anderes schuld sein: vielleicht die amorphe Tyrannei, gegen die zu rebellieren der Rock and Roll sich noch immer einbildet, oder jene namenlosen Tyrannen, die all die lächerlichen Regeln aufstellen, die zu brechen uns die kommerzielle Kultur unaufhörlich drängt. Vielleicht sind die schuld. Am Ende gibt es nur eins, was Teenagern wirklich wichtig ist: Sie wollen ernst genommen werden. Und hier, neben allem, was Frühlings Erwachen als Material für ein kommerzielles Rock-Musical so gänzlich ungeeignet erscheinen lässt, liegt Frank Wedekinds schlimmstes Vergehen: Er macht sich genauso über Teenager lustig — ja er lacht sie rundweg aus — , wie er sie ernst nimmt. Und deshalb muss er heute, mehr denn je, zensiert werden.