Der Begriff, den Wedekind als Untertitel für sein Stück gewählt hat, Eine Kindertragödie, hat einen merkwürdigen, unlösbaren, fast komischen Klang. Er weckt die Vorstellung von einer Tragödie, die sich bückt, um durch die Tür eines Spielhauses zu passen, oder von Kindern, die auf den Saum von Erwachsenenkostümen treten. Obwohl die Spätnachrichten das Wort Tragödie verwenden dürfen, wenn ein Jugendlicher sich das Leben genommen hat, liegen die herkömmlichen Eigenschaften einer tragischen Figur — Macht, Bedeutung, selbstzerstörerische Hybris, die Fähigkeit zu reifer moralischer Innenschau — per definitionem außerhalb der Reichweite von Kindern. Und was ist von einer «Tragödie» zu halten, in der die Hauptfigur, Melchior Gabor, unbeschadet überlebt?
Über die Jahre haben sich viele Kritiker und Produzenten mit Wedekinds Untertitel arrangiert, indem sie das Stück als eine Art Tragödie revolutionärer Systeme gelesen haben. Bei dieser Lesart wird die Rolle des tragischen Helden nicht einem Individuum zugewiesen, sondern einer ganzen Gesellschaft, die ihre Kinder vernichtet, während sie sie doch zu lieben behauptet. Die ersten deutschen Inszenierungen von Frühlings Erwachen hoben diesen Aspekt des Stücks hervor und legten nahe, dass Wendla, Moritz und Melchior frühlingshafte, springlebendige Unschuldslämmer seien, die der längst überholten bürgerlichen Moral des 19. Jahrhunderts zum Opfer fielen. Emma Goldman schrieb 1914, das Stück sei eine «überzeugende Geißelung» der «Nöte und Qualen» von Kindern, die in «sexueller Ahnungslosigkeit» aufwüchsen. Aus Sicht des englischen Dramatikers und Regisseurs Edward Bond stellt, sechzig Jahre später, Frühlings Erwachen eine «technologische Gesellschaft» an den Pranger, in der «alles von der Anpassung an die Gegebenheiten abhängt». Das Problem mit diesen Interpretationen ist nicht, dass sie faktisch unhaltbar sind — ein paar qualvolle Tode kommen in dem Stück immerhin vor — , sondern dass sie den allgegenwärtigen Humor des Stücks unterschätzen. Schon 1911 verteidigte Wedekind seinen eigenen Text gegen allzu ernste politische Deutungen, indem er darauf beharrte, er habe das Stück als ein «sonniges Abbild des Lebens» ausgestalten wollen und versucht, sämtlichen Szenen, mit Ausnahme einer einzigen, an «unbekümmertem Humor alles abzugewinnen, was irgendwie daraus zu schöpfen war».
Der Kritiker und Dramatiker Eric Bentley, Urheber einer der weniger inadäquaten englischen Übersetzungen von Frühlings Erwachen, lässt das Humor-Argument zwar gelten, führt aber den belastenden Untertitel als Beweis dafür ins Feld, dass der Schriftsteller zu viel behaupte. Die Möglichkeit beiseitelassend, der Untertitel könnte einfach ironisch gemeint oder an Goethes Faust angelehnt sein, der ja auch schwerlich die Tragödie ist, die der Untertitel verspricht, schlägt Bentley vor, Frühlings Erwachen als «Tragikomödie» zu lesen. Was für ein sonniges oder unsonniges Abbild des Lebens das Stück auch immer zeigt — es ist doch von der ersten Seite an mit Vorahnungen von Tod und Gewalt gesättigt. Und das Wort Tragikomödie scheint in seiner ganzen Unbeholfenheit, genau wie Kindertragödie, den unheilschwangeren Absurditäten junger Liebe angemessen: der Lächerlichkeit pubertären Leids, dem Leid pubertärer Lächerlichkeit.
Weniger angemessen allerdings ist das Wort für die tatsächliche Handlung des Stücks. Dramatische Tragik, ob griechisch, shakespearesch, modern oder auch halb komisch, ergibt nur im Kontext einer moralisch geordneten Welt Sinn. (So ergeht es ansonsten vortrefflichen Menschen, Mr. Hamlet, wenn sie sich selbst zu wichtig nehmen. So ergeht es einem, Mr. Loman, wenn man die große Lüge des amerikanischen Traums von der Arbeit mit nach Hause nimmt.) Tragik wird immer mit der Bestätigung einer Art kosmischer Gerechtigkeit ausgeglichen — wie grausam sie auch sein mag — , die der Zuschauer aus seiner eigenen Lebenserfahrung kennt. Und was an Frühlings Erwachen wirklich schockierend ist — was schon 1906 schockierend war und, der Vehemenz nach zu urteilen, mit der das Broadway-Musical sie unterdrückt, 2006 nicht minder — , ist die so beiläufige wie gründliche Amoralität seiner Handlung. Dass sowohl Wendla Bergmann als auch Moritz Stiefel gleich zu Anfang derart mit dem Tod beschäftigt sind, lässt ihr späteres Schicksal unausweichlich erscheinen; aber Tragik erfordert mehr als nur Unausweichlichkeit. In welcher moralisch verständlichen Welt findet eine trottelige, lebhafte, liebenswerte Figur wie Moritz Stiefel notgedrungen ein vorzeitiges Ende? Sein Tod, wie so viele Teenager-Selbstmorde, ist willkürlich, zufällig, bedeutungslos — und entspricht damit vollkommen dem Weltbild seines atheistischen Freundes Melchior, der nach eigenem Bekunden an nichts auf der Welt glaubt.
Die für die Handlung des Stücks zuständigen Erwachsenen sind nicht weniger hilflos als Moritz. Man kann Rektor Sonnenstich und die anderen Schulbeamten ihres autoritären Verhaltens wegen verabscheuen, aber sie haben es mit einer «Selbstmord-Epidemie» zu tun und verfügen über keinerlei Rüstzeug, sich einen Reim darauf zu machen. Ihr Verbrechen besteht darin, erwachsen, verstaubt, phantasielos zu sein; sie sind unsichere Hanswurste, keine moralisch schuldhaften Mörder. Genauso kann man Herrn Gabor wegen der kaltherzigen Verurteilung seines Sohnes verabscheuen, andererseits aber hat sein Sohn immerhin ein Mädchen, das er nicht liebte, nur um des Gefühlserlebnisses willen sexuell attackiert, und es ist keineswegs gesagt, dass er es nicht wieder tun würde.
Die Charaktere in Frühlings Erwachen lassen sich nur mit komischen und ästhetischen Kategorien beurteilen, nicht mit moralischen. Was uns wieder auf Wedekinds Behauptung zurückwirft, seine «Kindertragödie» sei eigentlich eine Komödie. Moritz, kurz davor, sich das Gehirn wegzupusten, beschließt, im Moment des Abdrückens an Schlagsahne zu denken («Sie stopft und hinterlässt dabei noch einen angenehmen Nachgeschmack»). Ilse sagt zu Martha, sie wisse, warum Moritz sich erschossen habe («Parallelepipedon!»), und weigert sich, Martha die Selbstmordwaffe zu schenken («die behalt’ ich zum Andenken»). Wendla, wegen ihres wachsenden Bauchs ans Bett gefesselt («unsere schrecklichen Verdauungsstörungen», wie der Arzt sich ausdrückt), erklärt, sie werde an Wassersucht sterben. «Du hast nicht die Wassersucht», antwortet ihre Mutter. «Du hast ein Kind, Mädchen!» Woraufhin Wedekind, einen wunderbaren Witz zu Ende führend, den er zehn Szenen vorher angelegt hat, als Frau Bergmann Wendla erklärt, Kinder bekäme man vom Heiraten, uns die doppelte Pointe liefert: