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Wendla: Aber das ist ja nicht möglich, Mutter! Ich bin ja doch nicht verheirathet …!

Frau Bergmann: Großer, gewaltiger Gott — , das ist’s ja, dass du nicht verheirathet bist!

Frau Bergmann, selbst naiv genug, sich von Herrn Gabor Melchiors rechtlich belastenden Brief abnehmen zu lassen, sehen wir zuletzt, als sie Wendla zu deren Schutz zuckersüße Lügen erzählt, bevor sie eine Engelmacherin aus der Nachbarschaft in ihr Krankenzimmer lässt. Gewiss gibt es in dem Stück ein paar wahrhaft garstige erwachsene Gestalten — Moritz’ Vater, Pastor Kahlbauch, Dr. Prokrustes — , doch einige der jungen männlichen Nebenfiguren sind es nicht minder, und Wendlas Freundin Thea merkt man schon an, dass sie einmal genauso konformistisch und engstirnig werden wird wie ihre Eltern. Die wichtigeren erwachsenen Charaktere zeigen alle wenigstens eine Spur von Menschlichkeit, und sei es in Form von Angst. Ja sie zeigen sie nicht nur, sondern sie müssen sie zeigen; sonst könnten sie nicht Gegenstand echter Komik sein. Um gut über Menschlichkeit lachen zu können, die eigene ebenso wie die Menschlichkeit anderer, muss man so viel Abstand haben und so schonungslos sein, als schriebe man eine Tragödie. Anders als eine Tragödie allerdings braucht eine Komödie keinen großartigen moralischen Entwurf. Die Komödie ist die robustere Gattung und auch diejenige, die besser zu gottlosen Zeiten passt. Für die Komödie braucht man nur ein Herz, das andere Herzen erkennt. Obwohl es stimmt, dass Frau Bergmanns Ängstlichkeit unmittelbar zum Tod ihrer geliebten Tochter führt, macht ebendiese menschliche Schwäche sie auch zu einer vollblütigen komischen Figur statt einem bloß satirischen Typus. Man müsste ein moralisch absolutistischer Teenager sein — oder ein zeitgenössischer Anbieter von Popkultur, der sich moralisch absolutistischen Teenagern anbiedert — , um in der Welt der Not, in die Frau Bergmann aufgrund ihrer Angst geraten ist, kein Mitleid mit ihr zu empfinden.

Weder können die erwachsenen Hauptfiguren unrettbar schlecht und trotzdem lustig sein, noch die kindlichen Hauptfiguren ausschließlich gut. Moritz’ Selbstmitleid und seine Besessenheit vom Selbstmord, Melchiors Sadismus und Amoralität, Wendlas Masochismus und fast rachsüchtig sture Ignoranz, Hänschens zynische Lüsternheit: Der grausamste Schlag, den Frühlings Erwachen heutigen Glaubenssätzen zufügt, die tiefe Peinlichkeit, die das Broadway-Musical mit vulgäreren Schandtaten zu tarnen sucht, besteht darin, dass Wedekind seine Kinderfiguren wie faszinierende kleine Tiere behandelt — fehlerhaft, süß, gefährlich, dumm. Sie weichen zu beiden Seiten weit vom sicheren Mittelweg der Jugend ab, der auf Lässigkeit und Selbstgerechtigkeit setzt. Sie sind unerträglich unschuldig und unerträglich verdorben zugleich.

Gegen Ende seines Lebens stellte Wedekind eine Liste von Adjektiven zusammen, um sich selbst, in Gegenüberstellung zu seinem Zeitgenossen und Rivalen Gerhart Hauptmann, zu beschreiben. Ganz unten auf der Liste von Wedekinds Attributen standen die Wörter authentisch, aber schauerlich. Der Witz, die Traurigkeit und die Resignation dieser Selbstbeschreibung entsprechen genau dem Geist von Frühlings Erwachen.

(Übersetzt von Bettina Abarbanell)

Interview mit New York (State)

Dieses Interview fand im Dezember 2007 auf der Upper East Side von Manhattan statt, nicht weit von dort, wo Bürgermeister Mike Bloomberg und der damalige Gouverneur Eliot Spitzer wohnten.

Pressesprecherin von New York (State): Es tut mir wahnsinnig leid! Heute Vormittag verzögert sich einfach alles, unser ehemaliger Präsident ist unerwartet vorbeigekommen, das macht er oft, und unsere Liebe, Gute kann anscheinend nie nein sagen zu Bill! Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihre halbe Stunde mit ihr kriegen, selbst wenn wir dafür den ganzen Nachmittag neu planen müssen. Es ist ganz reizend von Ihnen, dass Sie so viel Geduld mit uns haben.

JF: Wir hatten allerdings eine Stunde vereinbart.

Pressesprecherin von New York (State): Ja, ja.

JF: Ich habe mir hier neun bis zehn aufgeschrieben.

Pressesprecherin von New York (State): Ja. Und es geht um einen, hm, Reiseführer?

JF: Eine Anthologie. Die fünfzig Bundesstaaten. Von denen sie doch sicher am Ende nicht das kürzeste Kapitel abgeben möchte.

Pressesprecherin von New York (State): Nein, sicher nicht, obwohl, ha ha, sie ist ja auch die am meisten Beschäftigte von den fünfzig, es hätte also vielleicht sogar eine gewisse Logik, sich kurz zu fassen. Wenn Sie mir hier sagen wollen, dass sie nur Teil irgend so eines Fünfzig-Staaten-Vorsingens sein soll … mir war nicht ganz klar …

JF: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Ihnen –

Pressesprecherin von New York (State): Und es müssen definitiv fünfzig sein? Gingen nicht auch, ich sag mal, fünf? ‹Die Top fünf der Vereinigten Staaten› oder so was in der Art? Von mir aus auch die Top zehn? Um ein paar von den kleinen Fischen auszusortieren, dachte ich nur. Oder wenn Sie unbedingt alle fünfzig haben müssen, wie wär’s mit einem Anhang? So nach dem Motto: Hier sind die zehn wichtigsten Staaten, und dahinten, im Anhang, sind noch ein paar andere, die, Sie wissen schon, auch noch existieren. Wäre das eine denkbare Option?

JF: Leider nein. Aber vielleicht sollten wir einen neuen Termin ausmachen. An einem Tag, an dem sie nicht so viel zu tun hat.

Pressesprecherin von New York (State): Offen gesagt, Jon, bei ihr sieht jeder Tag so aus. Es wird höchstens immer schlimmer. Und da ich Ihnen heute eine volle halbe Stunde mit ihr verspreche, wären Sie meiner Meinung nach gut beraten zuzugreifen. Aber die Sache mit der Länge verstehe ich natürlich — vorausgesetzt, Sie sind wirklich fest entschlossen, die kleinen Fische einzubeziehen. Und deshalb würde ich Ihnen wahnsinnig gern ein paar phantastische neue Bilder zeigen, die sie von sich hat machen lassen. Es ist ein Projekt, das sie zusammen mit einer ihrer Stiftungen auf die Beine gestellt hat. Zwanzig der Top-Kunstfotografen der Welt ermöglichen die intimsten Einblicke in einen amerikanischen Staat, die bisher jemals zu haben waren. Einblicke, die wirklich anders, wirklich besonders sind. Ich will Ihnen natürlich nicht vorschreiben, wie Sie Ihre Arbeit zu tun haben. Aber wenn ich Sie wäre? Dann würde ich das in Betracht ziehen, vierundzwanzig Seiten einzigartige Weltklasse-Fotografie, gefolgt von einem ganz, ganz persönlichen kleinen Interview, in dem die größte Vertreterin unserer Nation ihre größte geheime Leidenschaft offenbart. Die da wäre … die schönen Künste! Ich meine, das ist doch New York. Denn sicher, offensichtlich: Die Liebe, Gute ist schön, sie ist reich, sie ist mächtig, sie ist glamourös, sie kennt jeden, sie hatte einen absolut phantastischen Werdegang. Aber in innerster Seele? Geht es ihr ausschließlich um die Kunst.