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JF: Genau. Und das ist auch durchaus interessant für mich, sprengt aber leider vollkommen den Rahmen meines –

Historiker von New York (State): Der Unabhängigkeitskrieg: eine einzige lange Ochsentour der Abnutzung und Zermürbung. Mit dem aalglatten General Washington, der sich ewig ums entschlossene Eingreifen gedrückt hat. Im Verlauf dieses langwierigen, nie richtig Krieg gewesenen Krieges, dieses hilflosen Versteck-dich-, Fang-mich-doch-, Nichts-wie-weg- und Kuckuck-Spiels, stechen vor allem zwei Schlachten als entscheidende Wendepunkte heraus. Beide aus der Anfangsphase des Krieges. Beide relativ unbedeutend, was die Zahl der Gefallenen angeht. Und beide fanden wo statt?

JF: Das ist, wow, das ist ja wirklich –

Historiker von New York (State): Ja, natürlich in New York. Im zentral gelegenen New York. Unsere erste wichtige Schlacht: Harlem Heights. Fatale Lage. Washington und seine wacklige Amateur-Armee gefährlich in Manhattan eingeschlossen. General William Howe mit einer veritablen Armada gerade im Hafen von New York eingetroffen — über dreißigtausend frische, gut ausgebildete Soldaten, einschließlich der sagenumwobenen Hessen. Unsere kontinentale Armee, durch schwere Verluste demoralisiert, leicht niederzuschlagen. Kritisches Gefecht: Harlem Heights, in der Nähe der heutigen Columbia Universität. Washingtons Truppen kämpfen gegen die Briten, Ausgang unentschieden, der General, dessen Armee mehr oder weniger intakt geblieben ist, kann sich nach New Jersey absetzen. Katastrophal verpasste Gelegenheit für die Briten, kolossal motivierender Durchbruch für Washington, der einen weiteren Tag gewonnen hat, an dem er kämpfen — oder den Kampf vermeiden! — kann.

JF: Entschuldigen Sie –

Historiker von New York (State): Zweite Schlacht: Bemis Heights, Saratoga. Das Jahr: 1777. Der Plan der Briten, wie sie den Krieg gewinnen wollen: simpel. Howes überwältigende südliche Expeditionsstreitmacht mit achttausend britischen Soldaten aus Kanada vereinen, unter der Führung von General John Burgoyne — dem sogenannten «Gentleman Johnny». Versorgungslinien schaffen, den Hudson und den Champlainsee kontrollieren, Neuengland von den Südkolonien abschneiden. Teilen und herrschen. Aber es ist der sumpfige Norden, der sumpfige Morast. Amerikanische Soldaten, viele nur auf Zeit, stoßen nach Bemis Heights in Saratoga vor, wo sie, von den Heldentaten Benedict Arnolds inspiriert, eine Serie von vernichtenden Angriffen auf Gentleman Johnny starten, der sich innerhalb einer Woche mit seiner gesamten Armee geschlagen gibt. Ein mitreißender Sieg von enormer strategischer Bedeutung! Die Nachricht ermutigt Frankreich, sich entschlossen an die Seite der Amerikaner zu stellen und England den Krieg zu erklären, und während der nächsten sechs Jahre erweist sich die beste Armee auf dem Planeten im Kampf gegen die Amerikaner erst recht als zögerlich und ineffektiv.

JF: Was?

Geologe von New York (State): Jeremy?

Historiker von New York (State): Die Lehre daraus? Beherrsche New York, und du beherrschst das Land. New York ist der Dreh- und Angelpunkt. Das brandheiße Zentrum. Der Haken, wenn Sie so wollen.

Geologe von New York (State): Jeremy, entschuldigen Sie, ich nehme unseren Gast mal kurz mit raus auf den Flur. Er sieht ein bisschen verstört aus.

Historiker von New York (State): Erste Hauptstadt der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika, wie in deren brillanter neuer Verfassung festgelegt? Schauplatz der Amtseinführung George Washingtons als des ersten Präsidenten der Republik? Sagte jemand … New York City? Und auch wenn unser damals noch in den Kinderschuhen steckender Bundesstaat die Hauptstadt nicht lange beherbergte, hatte er doch ein, zwei weitere Trümpfe im Ärmel! Im Westen der jungen Republik gelegen, bildete er einen Wall gegen die Atlantikküste: eine gewaltige Gebirgskette, die sich von Georgia bis hinauf nach Maine erstreckt. Nur drei Wege, um daran vorbeizukommen und das große wirtschaftliche Potenzial des Festlands anzuzapfen: ganz im Süden um Florida herum durch den Golf von Mexiko; ganz im Norden um Nova Scotia herum durch die ungastlichen kanadischen Gewässer des Sankt-Lorenz-Stroms; oder, zentral, zentral, durch eine Lücke, die der Hudson und der Mohawk in das Gebirge gefressen hatten. Man brauchte nur noch einen Kanal durch ein paar sumpfige Tiefebenen zu graben, und eine unerschöpfliche Flut von Holz, Eisen, Getreide und Fleisch würde durch New York City strömen, während eine Gegenflut von fabrizierten Waren den Fluss hinauf geschickt würde, um ihre Bürger für alle Zeit zu bereichern. Und siehe! Siehe!

Geologe von New York (State): Kommen Sie — hier entlang.

Historiker von New York (State): Siehe! Es geschah!

JF: Vielen Dank!

Geologe von New York (State): Wer hat Sie denn bitte zu Jeremy geschickt?

JF: Das war Mr. van Gander.

Geologe von New York (State): Ziemlicher Scherzkeks, dieser Rick van Gander. Ich bin übrigens Hal. Der Geologe. Hier draußen können wir etwas besser atmen. Möchten Sie ein Doughnut?

JF: Danke, nein. Ich möchte nur mein Interview machen. Dachte ich jedenfalls.

Geologe von New York (State): Klare Sache. (Wählt.) Janelle? Der Schriftsteller? Fragt wegen seines Interviews? … Okay, mach ich. (Legt auf.) Sie kommt und holt Sie ab. Wenn sie noch weiß, wo mein Büro ist. Kann ich Ihnen so lange irgendwie weiterhelfen?

JF: Danke. Ich fühle mich ein bisschen drangsaliert. Ich hatte die Vorstellung, dass ich mich mit New York in ein Café setzen und ihr erzählen könnte, wie sehr ich sie liebe und schon immer geliebt habe. Ganz informell, nur wir beide. Und dann wollte ich ihre Schönheit beschreiben.

Geologe von New York (State): Ha, so funktioniert das aber nicht mehr.

JF: Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich ganz hingerissen davon, wie grün und üppig alles war. Der Taconic Parkway, der Palisades Parkway, der Hutchinson River Parkway. Es war wie im Märchen, diese wunderschönen alten Brücken und Kilometer um Kilometer Wald und Parklandschaft zu beiden Seiten. So völlig anders als die flachen Asphaltstraßen und Kornfelder, die ich von zu Hause kannte. Und wie groß das alles war, wie alt.

Geologe von New York (State): Sicher.

JF: Die jüngere Schwester meiner Mutter hat lange in Schenectady gelebt, mit meinen beiden Cousinen und ihrem Mann, der für General Electric arbeitete. Irgendwann, als ich noch zur Schule ging, wurde er von der Fertigung in Schenectady an den Hauptsitz des Unternehmens versetzt, nach Stamford, Connecticut. In den letzten Jahren seiner Karriere war er der Leiter des Teams, dessen Aufgabe es war, das neue Unternehmenslogo zu entwerfen. Es sah dann fast genauso aus wie das alte.

Geologe von New York (State): Schenectady steht nicht mehr so gut da. Genau wie alle anderen alten Industriestädte.

JF: Meine Tante und mein Onkel flüchteten ins pseudokünstlerische Westport. In dem Sommer, als ich siebzehn wurde, besuchten meine Eltern und ich sie dort. Und prompt verknallte ich mich wie verrückt in meine Cousine Martha. Sie war achtzehn, groß, witzig, lebhaft, und sie konnte schlecht gucken, und weil wir verwandt waren, konnte ich sogar halbwegs entspannt mit ihr reden. Und irgendwie kam es zustande — aus unerfindlichen Gründen gaben meine Eltern ihre Einwilligung dazu — , dass Martha und ich nach Manhattan fuhren und einen Tag allein dort verbrachten. Das war im August 1976. Heiß, modrig, pollenschwer, gewitterschwül, alles voller Unkraut. Martha arbeitete als Babysitterin und Chauffeurin von drei Westport-Mädchen, deren Vater für zwei Monate mit seiner Frau und seiner Geliebten nach Südamerika gefahren war. Die Mädchen waren sechzehn, vierzehn und elf, alle drei unglaublich dünn und besessen vom Thema Körpergewicht. Die mittlere spielte Flöte und war frühreif und drängte Martha andauernd, sie zu Schulpartys mitzunehmen, damit sie ältere Jungs kennenlernen könne. Martha chauffierte sie in einer riesengroßen schwarzen Limousine. Irgendwann hatte sie eine solche bereits zu Schrott gefahren und dann im Büro ihres Arbeitgebers anrufen müssen, um eine neue zu organisieren. Mit hoher Geschwindigkeit fegten wir auf der linken Spur den Merritt Parkway entlang, alle Fenster offen, sodass kochend heiße Luft durch den Wagen blies, die drei Prinzessinnen hinten auf der Rückbank mehr liegend als sitzend — die beiden Älteren, die gar nicht so viel jünger waren als ich, so süß, dass ich den Mund kaum aufbekam. Nicht dass sie auch nur das geringste Interesse an mir gezeigt hätten. Wir landeten auf der Upper East Side, beim Kunstmuseum; unweit davon hatte die Großmutter der Mädchen eine Wohnung. Am meisten beeindruckte mich, dass die Mittlere zu diesem Tagesausflug in die Stadt ohne Schuhe mitgekommen war. Ich sehe sie noch barfuß über den heißen Fifth-Avenue-Gehweg laufen, in ärmellosem Top und knappen Shorts, die Flöte in der Hand. Darin kam eine so selbstverständliche Anspruchshaltung zum Ausdruck, wie ich sie noch nie erlebt, ja mir nicht einmal hatte vorstellen können. Es war jenseits meines Horizonts und gleichzeitig absolut berauschend. Meine Eltern waren Mittelwestler durch und durch und gingen mit ewigen Entschuldigungen und dem Gegenteil einer Anspruchshaltung durchs Leben. Und dann der diesige blaugraue Himmel, wissen Sie, mit den großen weißen Wolken, die über den Central Park ziehen. Und die Gebäude aus Stein mit den Portiers und die Fifth Avenue wie eine einzige, massive Kolonne von Yellow Cabs, die in die brombraune Dunstglocke entschwindet. Diese ganze gewaltige Urbanität. Und zusammen mit Martha dort zu sein, meiner aufregenden New Yorker Cousine, und einen Nachmittag lang mit ihr durch die Straßen zu wandern und dann zu Abend zu essen wie zwei Erwachsene und zu einem kostenlosen Konzert im Park zu gehen: Das Ich, das ich an jenem Tag zu sein glaubte, erkannte ich nur deshalb, weil ich mich so lange nach ihm gesehnt hatte. An meinem ersten Tag in New York begegnete ich in mir der Person, die ich sein wollte. Wir holten die Mädchen nachts gegen elf bei ihrer Großmutter ab und gingen zum Parkhaus des Kunstmuseums, und dort stellten wir fest, dass der rechte Hinterreifen platt war. Eine Pfütze aus schwarzem Gummi. Also arbeiteten Martha und ich Schulter an Schulter, schwitzend, wie ein Paar, und schafften es, den Wagen hochzubocken und den Reifen zu wechseln, während das mittlere Mädchen im Schneidersitz auf dem Kofferraum eines anderen Autos saß, die Fußsohlen schwarz von der Stadt, und Flöte spielte. Nach Mitternacht fuhren wir los. Die Mädchen schliefen hinten, als wären es Marthas und meine Kinder, und die Fenster waren offen, und die Luft, immer noch schwül, aber kühler jetzt, roch nach der Meerenge, und die Straßen waren voller Schlaglöcher und leer, und die Straßenlaternen verbreiteten ein geheimnisvoll natriumoranges Licht, anders als die bläulichen Quecksilberdampflampen, die es noch in St. Louis gab. Dann fuhren wir über die Whitestone Bridge. Und das war der Moment, in dem ich die entscheidende Vision hatte. Und New York unwiderruflich verfieclass="underline" als ich mitten in der Nacht Co-op City sah.