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Geologe von New York (State): Gibt’s ja nicht.

JF: Im Ernst. Ich hatte den Tag in Manhattan verbracht, hatte die größte und stadtartigste Stadt der Welt bereits gesehen. Und jetzt entfernten wir uns seit fünfzehn oder zwanzig Minuten von ihr, was von St. Louis aus gereicht hätte, um zwischen stockdunklen, flussgrundschwarzen Kornfeldern zu landen, und plötzlich waren da diese riesigen Wohntürme, so weit das Auge reichte, jeder einzelne so hoch wie das höchste Gebäude in St. Louis, und mehr, als ich zählen konnte. Die, die am weitesten weg waren, standen drüben am Wasser und wirkten in dem Dunst wie von einem anderen Stern. Zehntausende von Stadtleben übereinandergestapelt und aneinandergepresst. Die schiere Anzahl von Wohnungen, die man da in der südöstlichen Bronx sehen konnte: Das alles erschien mir in dem Moment unergründlich und aufregend groß, genauso wie meine eigene Zukunft, mit Martha neben mir, die hundertzwanzig fuhr.

Geologe von New York (State): Und ist was daraus geworden? Aus Ihnen und ihr?

JF: Ich hab vier Jahre später mal auf ihrem Sofa gepennt. Wieder auf der Upper East Side. In irgendeinem anonymen Co-op-City-ähnlichen Wohnturm. Martha hatte gerade ihr Examen an der Cornell University gemacht. Sie teilte sich eine Dreizimmerwohnung mit zwei anderen Mädchen. Ich war mit meinem Bruder in der Stadt. Wir hatten uns in Chinatown zum Essen mit der Schwiegerfamilie meines anderen Bruders getroffen, der ein paar Jahre vorher sein eigenes Manhattan-Mädchen geheiratet hatte. Tom wollte bei einer seiner Freundinnen von der Kunsthochschule übernachten, und ich fuhr zu Martha. Ich weiß noch, dass sie am Morgen gleich als Erstes Robert Palmers «Sneakin’ Sally Through the Alley» im Wohnzimmer auflegte und die Lautstärke hochdrehte. Wir fuhren mit einem unglaublich vollen Zug der Linie 6 runter nach SoHo, wo sie für die SoHo News Anzeigenplatz verkaufte. Und ich dachte: Mann, was für ein Leben!

Geologe von New York (State): Und wieder ganz ohne Ironie, vermute ich.

JF: Genau.

Geologe von New York (State): New York is where I’d rather stay!/I get allergic smelling hay!

JF: Was soll ich Ihnen sagen? Es besteht eine besondere Verbindung zwischen dem Mittelwesten und New York. Nicht nur, dass New York den Markt für die Waren geboten hat, die den Mittelwesten zu dem gemacht haben, was er ist; und nicht nur, dass der Mittelwesten durch die Lieferung dieser Waren New York zu der gemacht hat, die sie ist. Vielmehr ist New York wie das wachsame Auge des Yang im Zentrum der anspruchslosen, bescheidenen mittelwestlichen Ebenen des Yin. Und der Mittelwesten ist wie das taufrische, romantische, hoffnungsvolle Auge des Yin im Zentrum von New Yorks brutalem, habgierigem Yang. Eine bestimmte Art von Mittelwestler geht an die Ostküste, um sich zu vervollkommnen, so wie ein bestimmter Typ New Yorker in den Mittelwesten geht, um neue Kräfte zu schöpfen.

Geologe von New York (State): Hm. Ganz schön tiefgründig. Und wissen Sie, was wirklich interessant ist — auch auf der Ebene der Geologie besteht eine Verbindung. Ich meine, überlegen Sie doch maclass="underline" New York State ist der einzige Staat an der Ostküste, der zugleich auf dem Gebiet der Großen Seen liegt. Glauben Sie, es war Zufall, dass der Erie-Kanal dort gegraben wurde, wo er ist? Sind Sie schon mal die Schnellstraße am Mohawk entlang nach Westen gefahren? In der Ferne, weit, weit weg, etliche Kilometer gen Süden hin, sieht man diese gewaltigen, schroffen Flussklippen. Und wissen Sie was? Diese Klippen waren früher mal die Ufer des Flusses. Damals, als er eine kilometerbreite verheerende Flut Gletscherschmelzwasser war, die aus dem Kontinent hervorbrach und zum Ozean abfloss. Das nämlich hat Ihren schönen Verbindungsweg in den Mittelwesten geschaffen: die Eiszeit.

JF: Die geologisch gesehen gerade erst stattgefunden hat, wenn ich richtig verstanden habe.

Geologe von New York (State): Gestern Nachmittag, geologisch gesehen. Es ist erst zehntausend Jahre her, dass im Bear Mountain State Park und in West Point Mastodonten und wollige Mammuts rumliefen. Es gab die verrücktesten Sachen — kalifornische Kondore oben bei Syracuse, Walrösser und Beluga-Wale an der kanadischen Grenze. Und all das erst vor kurzem. Mehr oder weniger gestern Nachmittag. Vor zwanzigtausend Jahren befand sich der gesamte Staat unter einer Eisdecke. Als das Eis sich allmählich zurückzog, in ganz Nordamerika, entstanden riesige Schmelzwasserseen, die nirgendwohin abfließen konnten. Und so stiegen und stiegen die Pegel, immer weiter, bis das Wasser einen katastrophischen Ausweg fand. Manchmal strömte es auf der westlichen Seite den Mississippi runter, aber manchmal traf es dort auf monumentale Eisdämme und musste sich einen Weg über den Osten bahnen. Und wenn ein Damm schließlich brach, dann brach er wirklich. Das war mehr als biblisch; das war ehrfurchtgebietend. Und es ist mitten im Bundesstaat New York passiert. Irgendwann führte der Ausweg für all das Wasser genau am heutigen Schenectady vorbei. Es formte die Klippen im Süden des Mohawk und das Hudson-Tal, ja sogar einen Canyon im Festlandsockel, der mehr als dreihundert Kilometer weit ins Meer hineinragt. Dann zog sich das Eis weiter und weiter gen Norden zurück, bis sich noch ein Ventil auftat: über die Gipfel der Adirondacks und um deren Ostseite herum hinunter zum Hudson, wo sich später der George-See und der Champlain-See bildeten. Was man heute vom Hudson sieht, ist also de facto ein naher Verwandter des Mississippi. Die beiden Flüsse waren die zwei wesentlichen südlichen Abflüsse für einen ganzen Kontinent geschmolzenen Eises.