und er versieht diese Örtlichkeiten mit einer seltsamen, verdrehten Gemütlichkeit. Man bedauert, nicht selbst dort gewesen zu sein, wie man es bedauert, keine Schlittenfahrt mit Natascha Rostow gemacht zu haben. Gegen Ende von Die Preisgabe steigen zwei Protagonisten auf die am Ufer des Lake Michigan aufgetürmten Felsen:
Sie setzten sich hin und dachten daran, wie viel weniger verzweifelt sie, trotz allem, gewesen waren, als sie im vorigen Jahr hier saßen, wie viel zufriedener, obwohl sie doch damals auch nicht gerade hoffnungsfreudig in die Zukunft geblickt hatten. Ein paar Möwen flatterten um irgendwelchen Abfall herum, der auf dem öligen Wasser dahintrieb.
Was für die meisten von uns eine Extremsituation wäre, ist in Mr. Purdys Welt ganz alltäglich. Bei ihm kann man Verzweiflung anprobieren und feststellen, dass sie einem besser passt, als man dachte. Selbst seine bizarrsten Figuren kommen mir nicht absonderlich vor. Eigenartigerweise kommen sie mir vor wie ich. In Die Preisgabe lese ich von Demütigungen und Inzest, von Selbsthass und Selbstzerstörung, und zwar mit demselben lebhaften, anteilnehmenden, moralisch gefestigten Interesse, mit dem ich bei Jane Austen von gelösten Verlobungen und verletzten Gefühlen lese. Wenn man einen Roman von Purdy beginnt, kann man sicher sein, dass er ganz und gar nicht gut enden wird. Purdys große Kunst besteht darin, die unaufhaltsame Entwicklung zur Katastrophe hin auf eine Weise zu erzählen, dass sie so befriedigend und irgendwie lebensbejahend ist wie eine Entwicklung, die auf ein Happy End zusteuert. Und wenn Purdy dem Leser schließlich — wie auf den letzten drei Seiten von Die Preisgabe — ein winziges Stückchen Hoffnung und Glück zuwirft, möchte man in Tränen der Dankbarkeit ausbrechen. Es ist, als wollte das Buch einem, allem Anschein zum Trotz, vor Augen führen, welch ein Wunder es ist, dass überhaupt jemals eine Liebe erfüllt wird, dass zwei Menschen, die zusammenpassen, überhaupt jemals zueinanderfinden. Man hat sich derart mit dem Desaster arrangiert, hat sich Purdys fatalistische Sicht der Dinge so sehr zu eigen gemacht, dass ein Augenblick ganz gewöhnlichen Friedens, ganz gewöhnlicher Freundlichkeit einem wie ein Akt göttlicher Gnade erscheint.
Man sollte Mr. Purdy nicht mit seinem verstorbenen Zeitgenossen William Burroughs oder dessen zahlreichen grenzüberschreitenden Nachfolgern verwechseln. Grenzüberschreitende Literatur richtet sich, sei es offen oder uneingestanden, immer an die bürgerliche Welt, von der sie abhängig ist. Als Leser grenzüberschreitender Literatur hat man zwei Möglichkeiten: Man ist entweder schockiert, oder aber man schockiert andere mit seiner Weigerung, schockiert zu sein. Mr. Purdys öffentliche Äußerungen zeugen von einer unversöhnlichen Feindschaft gegenüber der amerikanischen Gesellschaft, doch in seinen Romanen richtet er den Blick nach innen. Jedem einzelnen Satz in Die Preisgabe ist anzumerken, wie gleichgültig es dem Autor ist, ob irgendein Leser davon schockiert ist oder nicht. Der Antiheld des Buches — ein grausamer, arroganter, schnorrender bisexueller Dichter, der auf alten Zeitungen mit einem Kohlestift ein episches Gedicht über das moderne Amerika schreibt — ist ein obsessiver Leser der Briefe und Tagebücher anderer Menschen:
Anders als in kleinen Orten finden sich in Großstädten Durchreisende, … die ihre Briefe achtlos mit sich herumtragen und sie entweder verlieren oder wegwerfen. Die meisten Passanten würden es nicht der Mühe wert halten, sich zu bücken, um einen solchen Brief aufzuheben, da sie annehmen, dass der Inhalt sie keinesfalls interessieren oder gar fesseln könnte. Das traf bei Eustace nicht zu. Er vertiefte sich in fremde Briefe, deren Botschaften nicht für ihn bestimmt waren. Für ihn waren es Kostbarkeiten, die eine beredte Sprache führten. Es hätte ihm das Paradies auf Erden bedeutet, die Liebesbriefe eines jeden Briefschreibers zu lesen, ganz gleich, wie ungelenk, ungebildet oder primitiv sie waren — wenn es sich um einen wirklichen Liebesbrief handelte. Was die Jagd so aufregend machte, war, auf dieses eine seltene Juwel zu stoßen: die echte, nackte, unverstellte Stimme der Liebe.
Eustace wird schließlich so süchtig nach den wahren Lebensgeschichten anderer Menschen, dass er aufhört zu arbeiten und seine Aufmerksamkeit ganz und gar der zentralen Liebesgeschichte des Buches widmet, einer verrückten, unerfüllten Beziehung zwischen Daniel Haws, einem jungen ehemaligen Bergarbeiter, und Amos Ratliffe, einem schönen, blonden Jungen vom Land. Purdy ist unendlich viel größer und härter und proteischer als seine Figur Eustace — immerhin hat er sechsundvierzig Romane, Gedichtsammlungen und Dramen verfasst — , doch als Autor wird er offensichtlich von derselben hilflosen Faszination, derselben Identifikation mit menschlichem Leiden getrieben wie dieser. Ganz gleich, wie sehr Mr. Purdy von sich als Autor eingenommen ist, ganz gleich, wie sehr er sich in der Öffentlichkeit als harter Knochen geriert — wenn er sich daran macht, eine Geschichte zu erzählen, gelingt es ihm irgendwie, sein Ego an der Garderobe abzugeben und ganz und gar in seine Figuren einzutauchen. Kaum ein Schriftsteller Amerikas wurde und wird so unterschätzt und übergangen. Von allen hervorragenden Büchern, die er geschrieben hat, ist Die Preisgabe das reichste, das am besten geschriebene, das am stringentesten erzählte, das am schönsten konstruierte. Im Amerika der Nachkriegszeit gibt es nur sehr wenige bessere Romane, und ich kenne keinen einzigen von ähnlicher Qualität, der so trotzig darauf beharrt, er selbst zu sein. Ich liebe dieses Buch, und es ist mir eine große Ehre, es mit dem Fadiman Award auszeichnen zu dürfen.
(Übersetzt von Dirk van Gunsteren)
Unser kleiner Planet
1969 brauchte man mit dem Auto von Minneapolis nach St. Louis zwölf Stunden und fuhr zumeist auf zweispurigen Straßen. Meine Eltern weckten mich deswegen vor Tagesanbruch. Wir hatten eine extrem lustige und kurzweilige Woche bei meinen Vettern und Cousinen in Minnesota verbracht, doch sobald wir die Auffahrt meines Onkels hinter uns gelassen hatten, verflüchtigten sich besagte Vettern und Cousinen aus meinen Gedanken wie der Morgentau vom Dach unseres Wagens. Ich war wieder allein auf dem Rücksitz. Ich schlief ein, meine Mutter holte ihre Zeitschriften heraus, und das Gewicht der langen Julifahrt lastete voll und ganz auf meinem Vater.
Um den Tag durchzustehen, verwandelte er sich in einen Algorithmus, einen Zahlenfresser. Unser Wagen war die Axt, mit der er die auf den Schildern genannten Entfernungen attackierte, die nahezu unerträgliche 238 auf eine immer noch entmutigende 179 zurückstutzte, dann auf die 150er, 140er und 130er einhackte, bis sie einer halbwegs menschlichen 127 wichen, die sich auf 120 abrunden ließ, eine Entfernung, die er in knapp zwei Fahrstunden bewältigen zu können meinte, obwohl es mit all den Viehlastern und rücksichtslosen Fahrern auf der Straße vor ihm wohl eher an die drei werden würden. Mit schierer Willenskraft mähte er die letzten zwanzig Meilen zwischen sich und den zweistelligen Zahlen nieder, reduzierte diese um Zehner und Zwölfer, bis es endlich vor ihm auftauchte: «Cedar Rapids 34». Erst dann gestattete er sich — sein einziges Vergnügen an diesem Tag — , uns wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass die Zahl 34 die Entfernung bis zum Stadtzentrum bezifferte und uns in Wirklichkeit weniger als dreißig Meilen von dem eichenbeschatteten Park trennten, wo wir gern anhielten und picknickten.