Wir aßen alle drei schweigend. Mein Vater nahm den Kern einer Zwetschge aus dem Mund und ließ ihn in eine Papiertüte fallen, leicht mit den Fingern wedelnd. Er wünschte, er wäre noch bis Iowa City weitergefahren — Cedar Rapids lag noch nicht einmal auf halber Strecke — , und ich wünschte, wir säßen schon wieder im klimatisierten Wagen. Cedar Rapids kam mir wie der Weltraum vor. Die warme Brise gehörte zu jemand anderem, nicht zu mir, und die Sonne über unseren Köpfen erinnerte mich brutal daran, dass der Tag unerbittlich schwand, und die fremden Eichen in dem Park zeugten allesamt davon, wie tief wir uns im Nirgendwo befanden. Selbst meine Mutter hatte nicht viel zu sagen.
Aber wirklich endlos war erst die Fahrt durch Südost-Iowa. Mein Vater ließ sich darüber aus, wie hoch der Mais stand, wie schwarz der Boden war, wie dringend bessere Straßen vonnöten seien. Meine Mutter klappte die vordere Armlehne herunter und spielte Mau-Mau mit mir, bis ich es genauso leid war wie sie. Alle paar Meilen eine Schweinefarm. Noch eine Neunziggradkurve. Noch ein Lastwagen mit fünfzig Autos dahinter. Jedes Mal, wenn mein Vater aufs Gaspedal trat und zum Überholen ausscherte, atmete meine Mutter erschrocken ein:
«Fffff!
«Ffffffff!
«Ffffff-fffffff! — Oh! Earl! Oh! Fffff!»
Eine weiße Sonne im Osten, eine weiße Sonne im Westen. Die Aluminiumkuppeln der Silos: weiß vor weißem Himmel. Es schien, als führen wir seit Stunden stetig bergab und rasten auf eine sich ständig zurückziehende grüne Pelzigkeit an der Staatsgrenze Missouris zu. Schrecklich, dass es immer noch Nachmittag sein konnte. Schrecklich, dass wir immer noch in Iowa waren. Wir hatten den gastlichen Planeten, auf dem meine Vettern und Cousinen lebten, hinter uns gelassen und donnerten Richtung Süden auf ein stilles, dunkles, klimatisiertes Haus zu, in dem ich die Einsamkeit nicht einmal mehr als solche erkannte, so vertraut war sie mir.
Mein Vater hatte seit fünfzig Meilen kein Wort mehr gesagt. Er nahm schweigend eine weitere Zwetschge von meiner Mutter entgegen und gab ihr einen Moment später den Kern zurück. Sie kurbelte ihr Fenster herunter und warf den Kern in den Wind, der plötzlich von einem Geruch nach Tornados erfüllt war. Was eben noch ausgesehen hatte wie Dieselabgase, breitete sich rasant über den Himmel im Süden aus. Um sich greifende Dunkelheit um drei Uhr am Nachmittag. Und unaufhörlich ging es hinunter, immer steiler, die Maisquasten wogten hin und her, und alles war mit einem Schlag grün — Himmel grün, Straßenbelag grün, Eltern grün.
Mein Vater schaltete das Radio ein und suchte zwischen krachenden Störungen nach einem Sender. Ihm war wieder eingefallen — vielleicht hatte er es auch nie vergessen — , dass in diesen Sekunden noch etwas anderes runterging. Rauschen auf Rauschen auf Rauschen, irrwitzige Angriffe auf die Unversehrtheit des akustischen Signals, aber dennoch konnten wir Männer mit texanischem Akzent immer geringere Höhen melden hören, bis sie bei null angelangt waren. Dann traf mit dem gewaltigen Zischen einer Fritteuse eine Regenwand auf unsere Windschutzscheibe. Überall Blitze. Weiteres Rauschen zerschlug die texanischen Stimmen, der Regen auf unserem Dach war lauter als der Donner, der Wagen flatterte in den von der Seite kommenden Böen.
«Earl, vielleicht solltest du besser an den Rand fahren», sagte meine Mutter. «Earl?»
Er war gerade am Meilenstein 2 vorbeigefahren, und die texanischen Stimmen wurden fester, als hätten sie begriffen, dass die atmosphärischen Störungen ihnen nichts anhaben konnten: dass sie es schaffen würden. Und tatsächlich fingen die Scheibenwischer bereits an zu quietschen, die Straße trocknete, die schwarzen Wolken zerteilten sich in harmlose Fetzen. «Der Eagle ist gelandet», ließ sich das Radio vernehmen. Wir hatten die Staatsgrenze überquert. Wir waren wieder zu Hause auf dem Mond.
(Übersetzt von Bettina Abarbanell)
Das Ende des Rausches
Über Der Spieler von Fjodor M. Dostojewski
Wer nur aus Fleisch und blankliegenden Nerven besteht, existiert außerhalb der Zeit und — für einen Augenblick — außerhalb jedweder Geschichte. Der Cracksüchtige, der seit sechzig Stunden immer wieder den Lustknopf drückt, der Vertreter, der Frühstück, Mittagessen und Abendessen wie festgenagelt vor einem Videopoker-Terminal verzehrt hat, die Frustesserin, die ein Kilo Schokoladeneis verdrückt, der Student, der seit gestern Abend um acht mit heruntergelassener Hose auf Internetfotos stiert, der schwule Clubsurfer, der mit Unterstützung von Viagra- und Crystal-Meth-Cocktails ein langes Wochenende verbringt — sie alle werden einem (sofern man ihre Aufmerksamkeit erlangen kann) versichern, dass nichts wirklich ist außer dem Gehirn und seinen Stimulanzien. Für einen Menschen, der sich zwanghaft selbst stimuliert, sind die großen Erzählungen von Errettung und Transzendierung und die winzig kleinen alltäglichen Geschichten von «Ich hasse meinen Nachbarn» oder «Es wäre doch schön, mal nach Spanien zu fahren» gleichermaßen illusorisch und bedeutungslos. Dieser tiefe Nihilismus des Körpers ist natürlich ein Problem für die drei kleinen Kinder des Cracksüchtigen, den Arbeitgeber des Vertreters, den Mann der Eisesserin, die Freundin des Studenten und den Virologen des Clubsurfers. Aber derjenige, dessen Identität dieser sklavische Materialismus bedroht, ist der Schriftsteller, dessen ganzes Leben und Arbeiten darauf ausgerichtet sind, an das Erzählen zu glauben.
Kein Romanautor hat je so schwer und intelligent mit dem Materialismus gerungen wie Dostojewski. Als sein kurzer Roman Der Spieler 1866 veröffentlicht wurde, waren Wissenschaft, Technik und die politischen Folgen der Aufklärung dabei, die stabilisierenden alten Darstellungen über Religion und eine gottgewollte Gesellschaftsordnung zu demontieren; es wurde der Weg bereitet für den brutalen Materialismus der Kommunisten (der in Russland, China und anderswo Millionen Tote fordern sollte) und das von moralischen Schranken befreite Streben nach persönlichem Genuss (das mit seiner Konsumorientiertheit im Westen zu subtileren Verfallserscheinungen und Verdüsterungen des Gemüts führte). Dostojewskis reife Romane lassen sich als Kampagnen gegen beide Arten von Materialismus lesen, in denen er eine Gefahr nicht nur für sein wodkagetränktes, politisch maßloses Vaterland, sondern auch für sein eigenes Wohlbefinden sah. Sein maßloser Idealismus, für den er mit fünf Jahren Zwangsarbeit in Sibirien büßte, verlieh den Romanen Verbrechen und Strafe und Die Dämonen ihre Stoßrichtung; seine Sinnlichkeit, sein zwanghaftes Wesen und sein bissiger Rationalismus waren die destabilisierenden Kräfte, zu deren Abwehr er die Festung Die Brüder Karamasow und kleinere Bastionen wie Der Spieler errichtete. Geschichten zu erschaffen, die stark genug waren, dem Ansturm des Materialismus standzuhalten, das war ihm patriotische Pflicht und persönliche Notwendigkeit zugleich.
Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte Dostojewski auf einer Reise durch das Rheintal seinen zwanghaften Hang zum Spiel entdeckt, und als er, wie bekannt, wenige Jahre später gezwungen war, in nur einem Monat einen Roman zu schreiben, war diese Erfahrung noch frisch. Weil Der Spieler so schnell niedergeschrieben wurde, vermittelt das Buch den skizzenhaften Eindruck von einem Schriftsteller, der sich mit dem inneren Abgrund auseinandersetzen muss, in den er beim Roulettespiel geblickt hat. Die Handlung setzt unvermittelt ein, die Spannung wird dadurch erzeugt, dass dem Leser entscheidende Informationen vorenthalten werden; hier und da scheinen sie sogar dem Autor vorenthalten worden zu sein. In einem Grand Hotel, das sich ausnimmt wie eine sehr unordentliche Traumszenerie, ist eine große Familie verzweifelter Russen mit einer Staffage aus aller Herren Länder abgestiegen. Der Erzähler Alexej Iwanowitsch, Hauslehrer der jüngeren Kinder der Familie, ist hoffnungslos, wenn auch irgendwie nicht ganz überzeugend verliebt in Polina, eine der älteren Töchter, deren Loyalitäten und Motive bis zum Ende undurchsichtig bleiben. Alexej Iwanowitschs amouröse Nöte sind, ebenso wie die finanziellen Schwierigkeiten der Familie, im Grunde ganz gewöhnliche Themen eines Romans des 19. Jahrhunderts. Wirklich lebendig, klar und zwingend sind jedoch die Szenen im Spielcasino. Der Stoizismus der spielenden Herren der Gesellschaft, die Bösartigkeit der polnischen Zuschauer, die Anziehungskraft der «gierigen Verkommenheit» seiner Mitspieler, die Alexej Iwanowitsch spürt, das Fieber, in dem er die Selbstbeherrschung verliert und gedankenlos, ja automatisch einen Einsatz nach dem anderen platziert, der allgemeine Taumel und die Zeitenthobenheit des Casinos — all das wird genüsslich beschrieben. In Der Spieler wie in all seinen späteren Werken zeichnet Dostojewski den Nihilismus beinahe zu positiv. Eine reiche alte russische Dame nimmt am Roulettetisch Platz, und bald sind ihr Vermögen und das enorme narrative Potenzial, das es darstellt — man könnte damit Kirchen, die Unabhängigkeit einer Enkeltochter, den Gehorsam eines Neffen kaufen — , in einen Haufen vollkommen abstrakter, mit Leichtigkeit verschleuderter Jetons verwandelt. Von der alten Dame heißt es: «Äußerlich zitterte sie nicht einmal mehr … sie zitterte, wenn man so sagen darf, innerlich»; die Welt ist zurückgewichen; es gibt nur noch den Spieltisch. Ähnlich ergeht es Alexej Iwanowitsch, als er aufhört, mit Polinas Geld zu spielen, und ins Casino geht, um seine eigenen Mittel einzusetzen: Er ist auf der Stelle von seiner verzweifelten Liebe zu Polina befreit, die ihn bis dahin Tag und Nacht beschäftigt hat. Was ihn ins Casino treibt, ist eben diese Liebe, sein Wunsch, Polina zu retten, doch sobald die Sucht Besitz von ihm ergriffen hat, gibt es nur noch eine einzige Art von Spannung und keine Geschichte mehr: