Denn es gibt, wenn man sein eigenes Werk betrachtet, so eine Art Erschöpfung oder Verblüffung … Eigentlich ist das Einzige, was man hinterlassen hat, das, woran man gerade arbeitet. Und darum ist man viel dünner angezogen. Man ist wie jemand, der mit einem kurzen Hemdchen oder so herumläuft — damit meine ich die Arbeit, an der man gerade sitzt, und die seltsame Identifikation mit allem, was man zuvor getan hat. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich als Schriftstellerin nicht in der Öffentlichkeit auftrete. Ich glaube, das könnte ich nur, wenn ich eine große Betrügerin wäre.
6. Denn, schlimmer noch, Alice Munro ist eine reine Kurzgeschichtenautorin.
Und Kurzgeschichten stellen den Rezensenten vor noch größere Herausforderungen. Gibt es in der Weltliteratur eine einzige Kurzgeschichte, die durch die typische Zusammenfassung nicht ihres Reizes beraubt wird? (Ein gelangweilter Ehemann macht auf einer Promenade in Jalta zufällig die Bekanntschaft einer Dame mit einem Hündchen … In einer kleinen Stadt dient die jährliche Lotterie einem recht überraschenden Zweck … Ein Dubliner in mittleren Jahren verlässt eine Party und ergeht sich in Betrachtungen über das Leben und die Liebe …) Oprah Winfrey rührt Bücher mit Kurzgeschichten nicht an. Die Diskussion über Erzählungen ist derart schwierig, dass man Charles McGrath, dem ehemaligen Herausgeber der New York Times Book Review, seine kürzliche Bemerkung beinahe verzeihen kann: Er verglich junge Kurzgeschichtenautoren mit «Menschen, die Golf spielen lernen, sich aber nie auf den Platz wagen, sondern immer auf der Drivingrange bleiben». Soll heißen: Das eigentliche Spiel ist der Roman.
Beinahe alle kommerziellen Verleger teilen McGraths Vorurteil. Für sie ist eine Kurzgeschichtensammlung fast immer der unangenehme und wirtschaftlich erfolglose erste Bestandteil eines Vertrages über zwei Bücher, von denen das zweite auf keinen Fall eine weitere Kurzgeschichtensammlung sein darf. Und obgleich — oder vielleicht gerade weil — die Kurzgeschichte ein Aschenputteldasein fristet, gehört ein großer Prozentsatz der aufregendsten Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre — das, was mir sofort einfällt, wenn man mich fragt, was ich großartig finde — diesem Genre an. Da ist zum einen natürlich die große Meisterin selbst. Außerdem Lydia Davis, David Means, George Saunders, Amy Hempel und Raymond Carver — allesamt reine oder beinahe reine Kurzgeschichtenautoren — sowie eine größere Gruppe von Schriftstellern, die in den verschiedensten Genres Großes geleistet haben (John Updike, Joy Williams, David Foster Wallace, Lorrie Moore, Joyce Carol Oates, Denis Johnson, Ann Beattie, William T. Vollmann, Tobias Wolff, Annie Proulx, Michael Chabon, Tom Drury, Andre Dubus), Autoren, die aber meiner Meinung nach in ihren kürzeren Werken am entspanntesten und am unverfälschtesten sie selbst sind. Selbstverständlich gibt es auch einige sehr gute reine Romanciers. Doch wenn ich die Augen schließe und über die Literatur der vergangenen Jahrzehnte nachdenke, sehe ich eine Landschaft im Dämmerlicht, in der die Lichter, die mich am freundlichsten einladen, doch wieder einmal vorbeizuschauen, von bestimmten Kurzgeschichten ausgehen.
Ich mag Kurzgeschichten, weil sie dem Autor keinen Ort lassen, an dem er sich verstecken kann. Er kann sich nicht wortreich aus der Klemme ziehen; in ein paar Minuten werde ich die Geschichte zu Ende gelesen haben, und wenn er nichts zu sagen hat, werde ich es merken. Ich mag Kurzgeschichten, weil sie gewöhnlich in der Gegenwart oder in der lebendigen Erinnerung spielen; es ist, als widerstehe das Genre dem historischen Impuls, der viele zeitgenössische Romane so kurzlebig und ausgezehrt erscheinen lässt. Ich mag Kurzgeschichten, weil man überaus talentiert sein muss, um neue Charaktere und Situationen zu erfinden und dabei doch immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen. Alle Autoren von erzählender Literatur leiden darunter, dass sie nichts Neues zu sagen haben, aber am meisten leiden die Autoren von Kurzgeschichten. Wie gesagt: Man kann sich nicht verstecken. Die gewitztesten alten Hasen — Alice Munro oder William Trevor zum Beispiel — versuchen es gar nicht erst.
Die Geschichte, die Alice Munro immer wieder erzählt, geht ungefähr so: Eine intelligente, sexuell leidenschaftliche junge Frau wächst im ländlichen Ontario auf. Die Familie hat wenig Geld, die Mutter ist krank oder tot, der Vater ist Lehrer, seine zweite Frau ist schwierig. Die junge Frau flieht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus der Provinz, sei es mit Hilfe eines Stipendiums oder durch eine entschlossene, eigennützige Tat. Sie heiratet jung und zieht nach British Columbia, sie bekommt Kinder und ist keineswegs schuldlos am Scheitern ihrer Ehe. Vielleicht hat sie Erfolg als Schauspielerin, als Schriftstellerin oder als Fernsehmoderatorin; sie erlebt amouröse Abenteuer. Als sie — wie könnte es anders sein — nach Ontario zurückkehrt, findet sie die Landschaft ihrer Kindheit beunruhigend verändert. Obgleich sie es war, die ihrer Heimat den Rücken kehrte, trifft es sie in ihrem Narzissmus schwer, dass man sie nicht herzlich willkommen heißt und dass die Welt ihrer Jugend mit ihren altmodischeren Sitten und Moralvorstellungen nun ein Urteil über die modernen Entscheidungen fällt, die sie getroffen hat. Ihr Versuch, als unversehrter, unabhängiger Mensch zu bestehen, hat zu schmerzhaften Verlusten und Störungen geführt; sie hat andere verletzt.
Und das war’s, im Großen und Ganzen. Das ist der kleine Strom, der Alice Munros Werk seit mehr als fünfzig Jahren speist. Wie Clare Quilty tauchen dieselben Elemente immer wieder auf. Ebendiese Vertrautheit des Materials macht Alice Munros künstlerische Entwicklung in Selected Storys und mehr noch in den danach veröffentlichten Büchern so deutlich und atemberaubend sichtbar. Nichts weiter als diese kleine Geschichte — und man sehe sich an, was Alice Munro daraus entstehen lässt; je öfter sie dorthin zurückkehrt, desto mehr findet sie. Sie ist keine Golferin auf der Drivingrange. Sie ist eine Turnerin im schlichten schwarzen Trikot, allein auf dem nackten Boden, und sie sticht sie alle aus, die Romanautoren mit ihren bunten Kostümen, ihren Peitschen, ihren Elefanten und Tigern.
«Die Komplexität der Dinge — der Dinge in den Dingen — ist geradezu endlos», sagte sie in einem Interview. «Ich meine, nichts ist leicht, nichts ist einfach.»
Damit formulierte sie das grundlegende Axiom der Literatur und verwies auf den Kern dessen, was ihren Reiz ausmacht. Und wenn ich eine Dosis echter Literatur brauche, eine gute, starke Mixtur aus Paradox und Komplexität, dann finde ich das, aus welchen Gründen auch immer — sei es die Fragmentierung der Zeit, die mir zum Lesen zur Verfügung steht, sei es das moderne Leben mit seinen zahllosen Ablenkungen und Zersplitterungen oder der tatsächliche Mangel an fesselnden Romanen — am ehesten in kurzen Werken. Neben Tricks waren Wallaces Geschichten in den Bänden In alter Vertrautheit und Vergessenheit sowie eine überwältigende Kurzgeschichtensammlung der britischen Schriftstellerin Helen Simpson das Fesselndste, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Simpsons Buch, eine Reihe komischer Ausbrüche zum Thema «Die moderne Mutter», erschien ursprünglich unter dem Titel Hey Yeah Right Get a Life (dt. Gleich, Schätzchen) — ein Titel, an dem es, sollte man meinen, nichts zu verbessern gibt. Was die Marketingfachleute des amerikanischen Verlages allerdings nicht daran hinderte, es dennoch zu versuchen. Und was war ihr Vorschlag? Getting a Life. Denken Sie an dieses grässliche Gerundium, wenn Ihnen das nächste Mal ein amerikanischer Verleger erzählt, Kurzgeschichtensammlungen seien unverkäuflich.