7. Alice Munros Kurzgeschichten sind noch schwieriger zu rezensieren als die anderer Autoren.
Mehr als jeder andere Schriftsteller seit Tschechow erkämpft und erreicht Alice Munro in ihren Geschichten eine gestalthafte Vollkommenheit in der Abbildung eines Lebens. Sie ist von jeher ein Genie, wenn es um die Entwicklung und Darstellung von Augenblicken der Erkenntnis geht. In den nach Selected Storys (1996) erschienenen Kurzgeschichtensammlungen jedoch hat sie den wirklich großen Sprung in die Weltklasse gemacht und ist zur Meisterin der Spannung geworden. Sie schildert jetzt nicht mehr Augenblicke der Erkenntnis, sondern Augenblicke schicksalhaften, unumkehrbaren, dramatischen Handelns. Und das bedeutet, dass man im Hinblick auf den Sinn der Geschichte so lange im Dunkeln tappt, bis man ihren sämtlichen Windungen gefolgt ist; erst auf den letzten Seiten wird alles erhellt.
Mit wachsendem schriftstellerischem Ehrgeiz scheint sie immer weniger daran interessiert, mit ihrem Können zu prahlen. Große Gesten, exzentrische Details und ungewöhnliche Redewendungen finden sich nur in ihrem Frühwerk (zum Beispiel in der 1977 erschienenen Geschichte Eine fürstliche Abreibung). Doch nun, da ihre Geschichten klassischen Tragödien in Prosaform ähneln, hat sie keine Verwendung mehr für Unwesentliches, ja mehr noch: Es ist, als wäre jede Spur ihres schriftstellerischen Egos eine Kontamination, eine Beeinträchtigung der Stimmung, ein ästhetischer oder moralischer Verrat an der reinen Geschichte.
Wenn ich Alice Munro lese, stellt sich jener Zustand stiller Reflexion ein, in dem ich über mein eigenes Leben nachdenke, über die Entscheidungen, die ich getroffen, über die Dinge, die ich getan oder unterlassen habe, darüber, was für ein Mensch ich bin, über meinen Tod. Sie gehört zu den wenigen Schriftstellern — manche von ihnen leben noch, die meisten sind tot — , an die ich denke, wenn ich sage, dass die Literatur meine Religion ist. Wenn ich in eine Munro-Geschichte eintauche, bringe ich einem ganz und gar erfundenen Protagonisten dieselbe feierliche Achtung, dasselbe tiefe Interesse entgegen wie mir selbst in meinen besseren Momenten als menschliches Wesen.
Spannung und Reinheit sind ein Geschenk an den Leser, doch den Rezensenten stellen sie vor Probleme. Im Grunde ist Tricks so gut, dass ich mich an dieser Stelle gar nicht darüber auslassen möchte. Zitate werden dem Buch ebenso wenig gerecht wie eine Zusammenfassung. Man kann ihm nur gerecht werden, indem man es liest.
In Erfüllung meiner Rezensentenpflicht möchte ich Ihnen stattdessen diese kleine Kostprobe aus der letzten Geschichte in der zuvor veröffentlichten Sammlung Himmel und Hölle geben: Fiona, eine Frau, die in relativ jungen Jahren an Alzheimer erkrankt, wird in einem Pflegeheim untergebracht. Als ihr Mann sie nach Ablauf der vierwöchigen Eingewöhnungszeit besucht, hat sie unter den anderen Heimbewohnern einen «Freund» gefunden und ist an ihrem Mann nicht interessiert.
Kein schlechter Einstieg für eine Geschichte. Aber zu einer Munro-Geschichte wird sie durch die Tatsache, dass Grant, Fionas Mann, in den sechziger und siebziger Jahren eine Affäre nach der anderen hatte. Erst jetzt und zum ersten Mal ist der Betrüger der Betrogene. Bereut Grant nun seine Seitensprünge? Nein, ganz und gar nicht. Aus dieser Phase seines Lebens ist ihm «hauptsächlich eine gewaltige Steigerung seines Wohlbefindens» in Erinnerung. Nie hat er sich lebendiger gefühlt als zu der Zeit, als er Fiona betrog. Natürlich schmerzt es ihn zutiefst, bei seinen Besuchen im Pflegeheim zu sehen, dass Fiona und ihr «Freund» so ungeniert zärtlich miteinander umgehen, während sie ihm gegenüber vollkommen indifferent ist. Noch mehr schmerzt es ihn jedoch, dass die Ehefrau des Freundes diesen aus dem Heim nach Hause holt. Fiona ist untröstlich, und Grant ist es ebenfalls, denn er leidet mit ihr.
Hier zeigt sich, wie schwer es ist, eine Munro-Geschichte zusammenzufassen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass ich Ihnen erzählen will, was als Nächstes geschieht: Grant geht zu der Frau des Freundes und bittet sie, ihren Mann hin und wieder in das Heim zu bringen, damit er Fiona besuchen kann. Und nun begreift man, dass das, was man für den Kern der Geschichte hielt — die bedeutungsschwangeren Elemente Alzheimer, eheliche Untreue und spätes Liebesglück — , lediglich die Exposition waren: Die große Szene der Geschichte ist die Begegnung zwischen Grant und der Frau des Freundes. Die Frau lässt nicht zu, dass ihr Mann Fiona wiedersieht. Vordergründig sind ihre Motive praktischer Natur, in Wirklichkeit jedoch spielen Moral und Gehässigkeit die Hauptrolle.
Mein Versuch einer Zusammenfassung scheitert, denn wie soll ich die Großartigkeit dieser Szene jemandem vermitteln, der kein plastisches Bild von den beiden Personen, ihrer Art zu denken und zu sprechen hat? Die Frau — Marian — ist engstirniger als Grant. Sie lebt in einem perfekten, makellosen Vorstadthaus, das sie sich nicht mehr wird leisten können, falls ihr Mann ins Heim zurückkehrt. Nicht Liebe ist für sie wichtig, sondern das Haus. Weder in ökonomischer noch in emotionaler Hinsicht hat sie dieselben Vorteile genossen wie Grant, und dieser offensichtliche Mangel lässt Grant auf dem Heimweg in eine typisch munroeske Innenschau eintauchen.
[Ihr Gespräch] erinnerte ihn an Gespräche, die er mit Mitgliedern seiner eigenen Familie geführt hatte. Seine Verwandten, seine Onkel, wahrscheinlich sogar seine Mutter hatten so gedacht, wie Marian dachte. Sie hatten geglaubt, wenn andere Leute nicht so dachten, dann, weil sie sich etwas vormachten — sie waren zu weltfremd oder zu blöde, aufgrund ihres leichten und behüteten Lebens oder ihrer Bildung. Sie hatten den Anschluss an die Wirklichkeit verloren. Gebildete Leute, Literaten, einige Reiche wie Grants sozialistische Schwiegereltern hatten den Anschluss an die Wirklichkeit verloren. Infolge eines unverdienten Glücksfalls oder einer angeborenen Beschränktheit. …
Was für ein Trottel, dachte sie jetzt wohl.
Gegenüber einer solchen Person fühlte er sich mutlos, entnervt, schließlich nahezu allein gelassen. Warum? Weil er nicht sicher war, sich gegenüber dieser Person selbst treu bleiben zu können? Weil er Angst hatte, dass diese Menschen am Ende recht hatten?
Ich breche nur ungern ab. Ich würde gern weiterzitieren, nicht bloß einzelne Sätze, sondern ganze Passagen, denn es zeigt sich, dass das Mindeste, was meine Zusammenfassung leisten müsste, um der Geschichte, den «Dingen in den Dingen», dem Wechselspiel von Klasse und Moral, von Verlangen und Treue, von Charakter und Schicksal gerecht zu werden, eben das ist, was Munro bereits geschrieben hat. Die einzige adäquate Zusammenfassung des Textes ist der Text selbst.
Womit ich wieder bei dem einfachen Rat bin, den ich Ihnen eingangs gegeben habe: Lesen Sie Alice Munro! Lesen Sie Alice Munro!
Allerdings muss ich Ihnen sagen — ich kann es jetzt, da ich davon angefangen habe, nicht verschweigen — , dass Grant nach der vergeblich vorgetragenen Bitte zu Hause eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter vorfindet — eine Nachricht von Marian, die ihn zu einem vom Veteranenverein veranstalteten Tanzabend einlädt.
Und auch dies: dass Grant bereits Marians Brüste und ihre Haut gemustert und sie in Gedanken mit einer alles andere als befriedigenden Litschifrucht verglichen hat: «Das Fleisch mit seiner merkwürdig künstlichen Konsistenz, seinem chemischen Geschmack und Geruch, eine dünne Schicht über dem umfangreichen Kern, dem Stein.»
Und: dass sein Telefon einige Stunden später, während er noch immer Betrachtungen über Marians körperliche Reize anstellt, abermals läutet. Er nimmt den Hörer nicht ab, sondern lässt die Nachricht vom Anrufbeantworter aufzeichnen: