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In meinen regendurchtränkten Stiefeln hangelte ich mich an der Windseite entlang, jeden Tritt und jeden Griff zweimal prüfend, bevor ich ihm vertraute. Während ich vorwärtskroch und ein wenig weiter sehen konnte, kam mir der Kammweg jenseits der Felsnadel mehr und mehr wie eine neue Sackgasse vor, nichts als dunkler Raum dahinter und zu beiden Seiten. Auch wenn ich fest entschlossen war, den Más-Afuera-Schlüpfer zu finden, kam doch der Moment, in dem ich mich vor dem nächsten Schritt fürchtete, und plötzlich konnte ich mich selber sehen: mit ausgestreckten Armen und Beinen gegen eine glatte Felswand gepresst, in blendendem Regen und grimmigem Wind, ohne die Garantie, dass ich überhaupt in die richtige Richtung ging. Ein Satz, so klar, dass er beinahe wie gesprochen schien, schoss mir in den Kopf: Was du da machst, ist extrem gefährlich. Und ich dachte an meinen toten Freund.

David schrieb so gut über das Wetter wie jeder andere, der je Worte zu Papier gebracht hat, und seine Hunde hat er unverfälschter geliebt als irgendetwas oder irgendjemanden sonst, aber die Natur selbst hat ihn nicht interessiert, und Vögel waren ihm völlig egal. Einmal, als wir mit dem Auto in der Nähe von Stinson Beach unterwegs waren, in Kalifornien, hielt ich an, um ihm einen Fernglasblick auf einen Rostbrachvogel zu gönnen, eine Art, deren Herrlichkeit sich in meinen Augen ganz von allein erschließt. David schaute zwei Sekunden lang durch das Glas, bevor er sich offenkundig gelangweilt abwandte. «Yeah», sagte er mit seinem charakteristischen Tonfall leerer Höflichkeit, «er ist schön.» In dem Sommer, bevor er starb, saß ich mit ihm auf seiner Veranda, und während er Zigaretten rauchte, konnte ich meinen Blick nicht von den Kolibris abwenden, die sein Haus umschwirrten, und war traurig, dass er es konnte. Wenn er seinen schwer medikamentierten Mittagsschlaf hielt, lernte ich für eine bevorstehende Reise die Vogelarten von Ecuador auswendig, und ich begriff, dass der Unterschied zwischen seinem unbeherrschbaren Elend und meiner beherrschbaren Unzufriedenheit darin lag, dass ich mir selbst in der Freude an den Vögeln entkommen konnte und er sich nicht.

Er war krank, ja, und in gewisser Weise ist die Geschichte meiner Freundschaft mit ihm einfach die, dass ich einen Menschen liebte, der psychisch krank war. Die depressive Person brachte sich dann um, auf eine Art, die jenen, die er am meisten liebte, größtmöglichen Schmerz zufügen sollte, und wir, die wir ihn liebten, blieben zurück, zornig und mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein. Betrogen nicht nur, weil wir mit der Liebe, die wir investiert hatten, gescheitert waren, sondern auch, weil sein Selbstmord ihn uns wegnahm und aus dem Menschen eine öffentliche Legende machte. Leute, die nie ein Buch von ihm gelesen oder die nicht einmal von ihm gehört hatten, lasen im Wall Street Journal seine am Kenyon College gehaltene Abschlussrede und beklagten den Verlust einer großen und sanften Seele. Ein literarisches Establishment, das nie auch nur eines seiner Bücher für einen Staatspreis nominiert hatte, erklärte ihn nun einmütig zu einem verlorenen Nationalheiligtum. Natürlich war er ein Nationalheiligtum und «gehörte», weil er ein Schriftsteller war, seinen Lesern nicht weniger als uns. Aber auch wenn man zufällig wusste, dass sein eigentliches Wesen viel komplexer und dubioser war als das, wofür er gerühmt wurde, und wenn man zudem wusste, dass er viel liebenswerter war — witziger, alberner, bedürftiger, gequälter im Krieg mit seinen Dämonen, verlorener, auf kindliche Art durchsichtiger in seinen Lügen und Widersprüchen — als der Künstler/Heilige, der aus ihm gemacht wurde, war es immer noch schwer, sich nicht verletzt zu fühlen von dem Teil in ihm, der die Vergötterung durch Fremde der Liebe der Menschen, die ihm am nächsten standen, vorgezogen hatte.

Die Menschen, die David am wenigsten kannten, sprechen am ehesten in Begriffen der Heiligkeit von ihm. Was insofern besonders seltsam ist, als die gewöhnliche Liebe in seiner Literatur fast gar nicht vorkommt. Enge, liebevolle Beziehungen, die für die meisten von uns eine fundamentale Quelle von Sinn sind, haben im Wallace-Literaturuniversum keinen Platz. Was wir stattdessen vorgesetzt kriegen, sind Figuren, die ihre herzlosen Zwänge vor denen, die sie lieben, verbergen; Figuren, die Ränke schmieden, um liebevoll zu erscheinen oder sich selbst zu beweisen, dass das, was sich wie Liebe anfühlt, eigentlich bloß getarntes Eigeninteresse ist; oder, bestenfalls, Figuren, die eine abstrakte oder spirituelle Liebe für jemanden empfinden, der zutiefst abstoßend ist — die Kranialflüssigkeit tropfende Frau in Unendlicher Spaß, der Psychopath im letzten der Interviews mit fiesen Männern. Davids Literatur ist von Heuchlern und Manipulatoren und emotional Isolierten bevölkert, und doch nahmen die Menschen, die nur flüchtigen oder förmlichen Kontakt mit ihm hatten, seine ziemlich bemühte Hyperfreundlichkeit für bare Münze.

Das Seltsame aber ist, wie ernst genommen und getröstet, wie geliebt sich seine treuesten Leser fühlen, wenn sie Davids Literatur lesen. In dem Maß, in dem jeder oder jede von uns auf seiner oder ihrer existenziellen Insel gestrandet ist — und ich denke, es ist annähernd korrekt zu sagen, dass seine empfänglichsten Leser jene sind, die mit den sozial und seelisch isolierenden Folgen von Sucht oder Zwanghaftigkeit oder Depression vertraut sind — , greifen wir dankbar nach jeder neuen Depesche von dieser am weitesten entfernten Insel, die David war. Auf der Inhaltsebene gab er uns sein Schlechtestes: Mit einem Ausmaß an Selbstzerfleischung, das den Vergleich mit Kafka und Kierkegaard und Dostojewski verdient, legte er die Extreme seines eigenen Narzissmus, seiner Misogynie, seiner Zwanghaftigkeit, seines Selbstbetrugs, seines entmenschten Moralisierens und Theologisierens, seines Zweifels an der Möglichkeit der Liebe und seine Verstrickung in eine Fußnote-zur-Fußnote-Selbstbewusstheit bloß. Auf formaler und intentionaler Ebene jedoch wird genau dieser Katalog der Zweifel an seiner eigenen authentischen Güte vom Leser als ein Geschenk authentischer Güte angenommen: Wir spüren die Liebe in der Realität seiner Kunst und lieben ihn dafür.

David und ich pflegten eine Freundschaft des Vergleichs und des Gegensatzes und (auf eine brüderliche Art) der Rivalität. Ein paar Jahre, bevor er starb, signierte er seine beiden neuesten Bücher für mich. Auf dem Titelblatt des einen fand ich hinterher den nachgezeichneten Umriss seiner Hand; auf dem Titelblatt des anderen war der Umriss einer so gewaltigen Erektion, dass sie über die Seite hinausragte, versehen mit einem kleinen Pfeil und der Bemerkung «Maßstab 100 %». In Gegenwart eines Mädchens, mit dem er ausging, habe ich ihn einmal begeistert die Freundin von jemand anderem als sein «Paragon der Weiblichkeit» beschreiben hören. Davids Mädchen legte eine wunderbare Spätzündung hin und sagte: «Was?» Woraufhin David, dessen Wortschatz so groß war wie der keines anderen in der westlichen Hemisphäre, tief Luft holte, sie wieder ausstieß und sagte: «Ich stelle gerade fest, dass ich keine Ahnung habe, was das Wort Paragon eigentlich bedeutet.»

Er war liebenswert, wie ein Kind liebenswert ist, und er konnte Liebe mit kindlicher Reinheit erwidern. Wenn die Liebe dennoch aus seinem Werk verbannt ist, dann weil er nie recht das Gefühl hatte, sie zu verdienen. Er war lebenslang gefangen auf der Insel seiner selbst. Was aus der Ferne nach sanften Konturen aussah, waren tatsächlich steile Klippen. Manchmal war nur ein bisschen von ihm verrückt, manchmal beinahe alles, doch war er, als Erwachsener, nie ganz nicht verrückt. Was er von seinem Es gesehen hatte, als er mit Hilfe von Drogen und Alkohol aus seinem Inselgefängnis auszubrechen versucht hatte, nur um sich durch die Sucht noch mehr als Gefangener zu fühlen, scheint nie aufgehört zu haben, seinen Glauben an die eigene Liebenswürdigkeit zu zersetzen. Selbst nachdem er clean war, selbst Jahrzehnte nach seinem jugendlichen Selbstmordversuch, selbst nachdem er sich langsam und heldenhaft ein eigenes Leben aufgebaut hatte, fühlte er sich wertlos. Und dieses Gefühl verband sich, am Ende bis zur Ununterscheidbarkeit, mit dem Gedanken an Selbstmord, der der sichere Weg aus seiner Gefangenschaft war; sicherer als Sucht, sicherer als Literatur, sicherer, schließlich, als Liebe.