»Du liebst sie immer noch?«
Ich nicke.
»Auweia. Also ein schwerer Fall.« Er ?berlegt einen Moment. »Von der Richtung her w?rde ich denken, sie waren an die Alster unterwegs. Mit Gl?ck sind sie noch auf der Hundewiese. Also, wenn du dich ein bisschen …«
Den Rest des Satzes h?re ich nicht mehr, denn ich bin schon losgesaust in Richtung Terrassent?r. Ein Sprung, schon lande ich in der Werkstatt genau vor Carolins F?ssen.
»Hoppla, Herkules, was ist denn auf einmal mit dir los?«
Mit so viel Dynamik kann Carolin offensichtlich nichts anfangen. Kein Wunder, seit Weihnachten ist schon ganz sch?n viel Zeit vergangen, und mittlerweile weiss ich auch, was neben dem gesch?rften Geruchssinn die hervorstechendste Eigenschaft von schwangeren Frauen ist: Sie werden rund und runder. Carolin sieht langsam schon so aus wie Luisa als Maria mit dem Sofakissen unter der Bluse. Mal eben schnell irgendwohin springen ist also nicht mehr drin. Darauf kann ich jetzt allerdings ?berhaupt keine R?cksicht nehmen. Es geht schliesslich um Leben und Tod. Jedenfalls f?hlt es sich f?r mich so an.
Anstatt darauf zu warten, dass bei Carolin von allein der Groschen f?llt, wetze ich zur Garderobe im Flur und schnappe mir meine Leine, die praktischerweise neben dem Schirmst?nder
liegt. Zur?ck bei Carolin gucke ich so treu, wie nur ein Dackel es kann.
»Ach n?. Ich habe hier wirklich zu tun. Ausserdem tritt mir das Baby momentan st?ndig auf die Blase, nach Spazierengehen ist mir da absolut nicht. Sei ein braver Hund und geh wieder in den Garten!«
Was interessiert mich denn in meiner Lage das bl?de Baby? Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass mir jemand, den es im Grunde genommen noch gar nicht gibt, jetzt schon Vorschriften machen kann? Eine FRECHHEIT ist das! GRRRR!
»Oh, schlechte Laune, der Herr?« Daniel kommt von seiner Werkbank her?ber und kniet sich neben mich. »Soll ich vielleicht mit dir spazieren gehen?« Endlich! Gelebte M?nnersolidarit?t! Ich wedele wild mit dem Schwanz. »Hoppla, das muss ja ganz dringend sei. Na komm, dann wollen wir mal gleich los.«
»?h, wolltest du nicht eben noch Herrn Klingsporn anrufen?«, mischt sich Caro ein. Das ist doch wohl der Gipfel! Nicht selbst mit mir Gassi gehen und jetzt noch andere von der guten Tat abhalten wollen. Aber Daniel zeigt sich unbeirrt.
»Keine Sorge, den vergess ich schon nicht. Das Anliegen von Herkules scheint mir dringender zu sein.« Wuff! Ein Freund, ein echter Freund.
Auf der Hundewiese angekommen: keine Cherie. Nirgends. Mit h?ngender Zunge renne ich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Aber so sehr ich auch sp?he und schn?ffle – nichts! Zwar jede Menge Golden Retriever, aber keiner dabei, der Cherie auch nur ann?hernd das Wasser reichen k?nnte. Noch eine grosse Runde, dann lege ich mich hechelnd neben Daniel, der meine Fahndung von einer Bank aus beobachtet hat.
»Irgendwie werde ich das Gef?hl nicht los, dass du hier jemand Bestimmtes suchst. Ich w?rde dir gerne helfen, aber leider kannst du mir ja nicht sagen, um wen es eigentlich geht.«
Ach was. Da stellt einer das Offensichtliche fest. Aber wen werde ich schon suchen auf einer Hundewiese? Eine Katze? Ausserdem ist Cherie in den Augen von Daniel wahrscheinlich einfach nur ein Hund. Selbst wenn ich also reden k?nnte, w?rde es vermutlich nicht viel helfen. Er mustert mich.
»Lass mich mal nachdenken.« Nur zu! » Wir sind hier, weil du einen Hund suchst? Also wohl eher eine H?ndin.« Wow! Gar nicht so schlecht. Hilft mir aber nicht weiter. »Kumpel, hast du etwa auch Stress mit den Frauen?« Okay, Daniel tr?gt vollkommen zu Recht das Pr?dikat denkendes Wesen. Und jetzt ist es tats?chlich schade, dass ich nicht mit Menschen sprechen kann, denn ich glaube, Daniel w?re ein sehr viel einf?hlsamerer Gespr?chspartner als Herr Beck. Wie gerne w?rde ich ihm mein Herz aussch?tten – stattdessen muss ich es bei einem m?glichst traurigen Blick belassen.
»Gott, du guckst ja herzerweichend, du Armer! Folgender Vorschlag: Wir machen mal ein kleines P?uschen hier, vielleicht kommt das Objekt deiner Begierde noch. Und ich kann mal in Ruhe eine rauchen, ohne von Carolin erwischt zu werden. Die ist ja so furchtbar geruchsempfindlich geworden, die w?rde das sofort merken. Und meckern, dass ich ?berhaupt wieder angefangen habe.« Er kramt in seiner Jackentasche, holt eine Schachtel hervor und fummelt eine Zigarette heraus. Brrr, muss das denn sein? Ich finde Zigarettenrauch auch nicht so doll. Zwar nicht so schlimm wie das Zigarrengequalme des alten von Eschersbach, wenn im Salon
seine Herrenrunde tagte. Aber auf jeden Fall etwas, auf das ich gut verzichten kann.
»Sieben Jahre hab ich nicht geraucht – das hab ich mir gleich abgew?hnt, als ich mit Caro die Werkstatt aufgemacht habe. Aber jetzt der ganze Stress mit Aurora … ach ja, Weiber, nichts als ?rger!«
Mit dieser Einsch?tzung im Hinblick auf die bl?de Aurora gebe ich ihm nat?rlich v?llig Recht, aber ich verstehe nicht, was das mit Zigaretten zu tun hat. Andererseits – wenn Daniel sich Aurora vom Hals halten will, ist das wahrscheinlich ein probates Mittel.
»Dagegen ist die Arbeit mit Caro wirklich die reinste Erholung. Insofern muss ich das mit den Weibern relativieren. Es gibt auch nette. Sehr nette sogar. Zu schade, dass sie jetzt diesen Tierarzt hat. Na, ich meine, ich freu mich nat?rlich f?r sie, Marc ist ja ein Netter, und mit uns h?tte das sowieso nicht geklappt. Aber es gab schon Zeiten, da dachte ich, irgendwann habeich mal Kinder mit Carolin. War halt so ein Traum von mir, weisst du?«
Nein, weiss ich nicht. Ich weiss n?mlich generell nichts von menschlichen Tr?umen. Das muss jetzt eines dieser menschlichen Selbstgespr?che sein, die Herr Beck meint. Selbstgespr?ch unter Zuhilfenahme eines Tieres. Ist f?r das Tier allerdings relativ langweilig. Mit seiner freien Hand langt Daniel zu mir herunter und krault mich hinter dem Ohr.
»Hm, Herkules? Hoffe nur, dass sich Caro mit dem Baby nicht in eine dieser Superglucken verwandelt, die nur noch in Zweiworts?tzen reden. Es w?re mir lieb, sie bliebe ganz die Alte. Ich brauche mal mehr Best?ndigkeit bei meinen Bezugspersonen. Und du doch bestimmt auch.«
Wuff? Versteh ich nicht. Besteht etwa die Gefahr, dass sich bei Carolin durch das Baby irgendetwas?ndert? Und was in
aller Welt ist eine Superglucke? Ich pers?nlich kann zwar nicht mal menschliche Einworts?tze, aber ich bin mir sicher, dass Zweiworts?tze f?r Carolin eine deutliche Verschlechterung w?ren. Wie kommt Daniel denn darauf, dass so etwas passieren k?nnte? Leider sagt er dazu nichts mehr, sondern inhaliert den Rauch seiner Zigarette und starrt vor sich hin. Hm. So machen M?nnergespr?che keinen Sinn. Ich meine, so als Selbstgespr?ch. Ich brauchte jetzt dringend genauere Informationen.
Ein Windstoss weht den Zigarettenrauch genau in die Richtung meiner Nase, ich muss niesen. Pfui, das riecht wirklich nicht gut! Ich drehe mich zur Seite und atme tief durch, um das unangenehme Kribbeln in meiner Nase wieder loszuwerden, als es geschieht: Nur der Bruchteil, der Hauch des Hauchs eines Dufts, und trotzdem weiss ich sofort, dass sich das Warten gelohnt hat. SIE ist wieder da! Meine Cherie! Ich springe hoch und schaue in die Richtung, aus der ihr Duft kam.
Tats?chlich, da steht sie! Bildsch?n ist sie, fast noch sch?ner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr langes, blondes Haar weht in der leichten Brise, sie hat den Kopf gehoben und schaut ihr Frauchen an, das neben ihr steht und ihr irgendetwas erz?hlt. Ich will zu ihr hinrennen – doch dann z?gere ich. Was, wenn sie mich gar nicht mehr kennt? Oder schlimmer: mich erkennt, aber nichts mit mir zu tun haben will? Mein Herz f?ngt wieder an zu rasen, aber diesmal ist es nicht freudige Erwartung, sondern: Angst. Was mir als Jagdhund nat?rlich sehr peinlich ist. Aber ich kann es nicht leugnen. Sosehr ich mich nach diesem Moment gesehnt habe, so sehr f?rchte ich mich nun vor ihm.
»Aha. Das ist es also, das Objekt deiner Begierde.« Daniel steht wieder neben mir. Und seine ?usserung zeugt nicht
einmal von besonderem Hundesachverstand. Vielmehr ist wahrscheinlich kaum zu ?bersehen, dass ich mittlerweile angefangen habe zu zittern, als ob ich es mit einer ganzen RotteWildsauen aufnehmen m?sste. Kein Wunder, es f?hlt sich gerade auch genauso an.